Die 88-SMS und der Nazi-Verdacht

Sie ermittelten gegen den Attentäter Anis Amri. Die private Nachricht eines Beamten an seine Kollegen wurde zum Symbol für rechte Umtriebe in der Polizei. Doch der Fall ist komplexer

Von Alexander Fröhlich

Er ist fertig. Seit Dezember war er mehrere Monate krankgeschrieben. Weil es zu viel war, der Druck. Von oben. Aber das hier wollte er durchziehen. Weil es nicht auszuhalten war, was sie mit ihm gemacht haben. Sie – das sind ranghohe Beamten der Berliner Polizei, aber auch die Verwaltung von Innensenator Andreas Geisel (SPD). Wie in einem Brennglas bündeln sich in seinem Fall die Probleme der Berliner Polizei: die Pannen beim islamistischen Terroristen Anis Amri, Rechtsextremismus und eine Behördenleitung, die unter starkem politischen Einfluss steht.

Lars O. ist Hauptkommissar, Ende 40, der schwarze Anzug ist enger als früher. Ende Februar sitzt er neben seinem Anwalt in Saal 82 des Verwaltungsgerichts Berlin, auf der anderen Seite Vertreter der Polizei. O. klagt gegen seinen Dienstherrn. Er will den gegen ihn erteilten Verweis als Disziplinarmaßnahme nicht hinnehmen, obwohl es die niedrigste Stufe ist, die nach einiger Zeit aus der Personalakte wieder gestrichen wird.

Kurz vor Ostern verschickt die Disziplinarkammer des Gerichts den zehnseitigen Beschluss. Und der fällt deutlich aus. Was die Polizei mit ihm gemacht hat, war nicht rechtens. Mit der Entscheidung fällt eine ganze Erzählung, ein Bild der Berliner Polizei in sich zusammen. Es reicht zurück in den Juli 2018. Spätestens seit damals steht das Landeskriminalamt (LKA) Berlin unter Naziverdacht.

18 Monate war es her, dass Anis Amri einen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuerte und zwölf Menschen getötet hatte. „Rechtsextremismus-Vorwürfe gegen Berliner Elite-Polizist“, titelt die „Berliner Morgenpost“ am 12. Juli 2018, der RBB meldet: „Rechtsextreme SMS beim LKA Berlin“. Darin schrieb am 20. Januar 2017 der Polizeioberkommissar Michael Weinreich, der entgegen der Berichte kein Elitepolizist ist, im Januar 2018: „88“.

Die acht steht im Alphabet für den Buchstaben H. „88“ ist ein Nazicode und bedeutet schlicht „Heil Hitler“. Weinreich war in jenem Kommissariat des LKA tätig, das für Islamisten zuständig ist und Amri im Blick behalten sollte. Der Vorgesetzte, der die SMS privat von Weinreich bekam, ist Lars O. – der Skandal ist perfekt.

Seitdem haftet der Nazi-Verdacht an Berlins Polizei. Die 88-SMS war nur der Anfang. Es setzt sich fort in anderen Fällen, bei Drohbriefen eines Polizisten gegen Autonome aus dem Umfeld der Rigaer Straße. Wohlgemerkt ein Polizist, dessen Frau beim Staatsschutz tätig war und Zugriff auf die Daten der Betroffenen hatte. Und dann die rechtsextremistische Anschlagsserie in Neukölln, bei der die Polizei nicht vorankommt. Zuletzt dann ein Chat von Polizeistudenten, die sich rassistische Bilder per Whatsapp zugeschickt haben sollen.

Doch die 88-SMS an Lars O. ist zum ersten Symbol geworden. Sie steht für den Vorwurf, dass viele Beamte ohnehin irgendwie rechts sind, vor allem beim Staatsschutz, der für politisch motivierte Straftaten, rechtsextreme wie linksextreme, und für Terrorismus zuständig ist. 88, Hitler, Berliner Polizei – die öffentliche Wahrnehmung ist da schlicht. Auch weil andere Fälle die These, die Polizei sei nach rechtsaußen nicht ganz dicht, zu untermauern scheinen. Einen handfesten Nachweis für rechtsextreme Netzwerke gibt es nicht. Oft sind nur Indizien bekannt, winzige Ausschnitte aus Akten werden schnell zum Aufreger.

Externe Sonderermittler sollen nun die Anschläge in Neukölln prüfen. Ob es ein strukturelles Problem gibt mit Rechtsextremismus, soll untersucht werden. Vorgesetzte sollen Vorfälle zügiger nach oben melden. Die Sorgfalt kann dabei auf der Strecke bleiben. Dabei verlangt die Rechtsordnung der Bundesrepublik genau das: Jeder Fall muss einzeln betrachtet und von Gerichten beurteilt werden.

Mehr als 30 Disziplinarverfahren laufen derzeit bei der Berliner Polizei wegen rechtsextremer Umtriebe, in elf Fällen sollen Beamte aus dem Dienst entfernt werden. Kürzlich erst wurden zwei Polizeischüler vom Landgericht freigesprochen. Der Vorwurf bei einem Alba-Spiel „Sieg Heil“ gerufen zu haben, ließ sich nicht beweisen. Niemand bestreitet, dass es dringend nötig war, bei kleinstem Verdacht genauer hinzuschauen. Denn es gibt unbestritten rechte Umtriebe und Probleme auch in der Polizei.

Mit dem SMS-Fall hat sich der Tagesspiegel monatelang befasst, mit Beamten gesprochen, Akten, Vermerke und Gerichtsunterlagen ausgewertet. War das Bekanntwerden der 88-SMS nur ein gezieltes Manöver? Um von anderen Pannen im Fall Amri abzulenken? Der Fall reicht bis zur Zeit des Terrortrios NSU zurück und offenbart, wie sehr beteiligte Beamte nach dem Anschlag von Amri unter Druck geraten, Vorgesetzte dagegen aufgestiegen sind, geschützt wurden – und wie sehr die Politik hineinspielt.

Es ist der 19. Dezember 2016. Der Anschlag vom Breitscheidplatz, als Amri zwölf Menschen tötete und Dutzende verletzte, ist gerade einmal zwölf Tage her. Im Staatsschutz ist in diesen Tagen die Hölle los. Die ganze Republik schaut auf Berlin, auf dessen LKA. Die Beamten haben den bislang schwersten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden nicht verhindert. Michael Weinreich, damals Untergebener von Lars O., ist Polizeioberkommissar und arbeitet zu dieser Zeit im Dezernat 54 „Politisch motivierte Kriminalität Ausländer – Islamismus“. Silvester 2016 um 13 Uhr verschickt Michael Weinreich eine SMS an seine Kollegen, an die privaten Handynummern. Im Wortlaut samt Rechtschreibfehlern heißt es darin: „Kommt gut rinn, haltet euch von Merkel & Co und ihren scheiß Gut-Menschen fern.“ Am 20. Januar 2017 um 21.10 Uhr sendet Weinreich eine weitere SMS: „88“ – der Nazicode. Es ging um einen Termin für ein Treffen unter Kollegen.

Weinreich erhält für beide SMS einen Verweis und wird versetzt, erst für wenige Monate in den Stab des LKA-Abteilung 2, zuständig für Warenbetrug, Cybercrime, Taschen- und Trickdiebstahl. Später kommt er in die LKA-Abteilung 7, zunächst in das Kommissariat für Internationale Zusammenarbeit, dann in das Kommissariat für besonders beschleunigte Verfahren. Im Frühjahr 2019 erkrankt Weinreich, die Rede ist von einem stillen Infarkt.

Im politischen Berlin ist der Hauptkommissar inzwischen bekannt. Der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags zum Nazi-Terrortrio NSU hatte ihn geladen, auch der Ausschuss des Landtags Sachsen. Weinreich führte eine Vertrauensperson im Umfeld von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Nämlich VP 562, Thomas Starke. Dieser hatte Mundlos in den 90er Jahren mit Sprengstoff versorgt. 2002 bekam das Berliner LKA von Starke Hinweise auf den NSU, die aber nicht weitergegeben wurden.

Vor dem sächsischen Untersuchungsausschuss wollte sich Weinreich im Jahr 2013 zunächst nicht an VP 562 erinnern, bei der zweiten Vernehmung 2014 räumte er dann ein, Starke geführt zu haben. Von den Hinweisen auf das NSU-Trio wollte er nichts wissen. Erfahrene Ermittler sagen: Starke war Weinreich überlegen, der Beamte hätte nie auf den Neonazis angesetzt werden dürfen.

Als der thüringische NSU-Untersuchungsausschuss den Beamten laden wollte, war Weinreich krank. Das war im Frühjahr 2019. Der Ausschuss wollte die politische Einstellung von Weinreich überprüfen – wegen der „88“-SMS. Und weil der Nazi-Verdacht Rückschlüsse auf das Versagen beim NSU geben könnte.

Michael Weinreich ist kein Kriminalbeamter, sondern von der Schutzpolizei im höheren Dienst. Vor allem aber: Weinreich ist Farbiger oder – wie es nach politisch korrektem Sprech in Berlin heißt: Person of Colour, kurz POC. Sein Vater ist farbiger US-Amerikaner, die Mutter weiße Deutsche. In allen Verfahren zur SMS wird stets darauf verwiesen.

Der Personalrat des LKA notierte im Februar 2018, „dass Herr Weinreich aufgrund seiner Hautfarbe in der Vergangenheit selbst Opfer ausländerfeindlicher Diskriminierung geworden war“. Weinreich erklärte bei Vernehmungen, sich wegen seiner Hautfarbe nicht in alle Berliner Bezirke getraut zu haben – aus Angst vor Nazis. Ausgerechnet dieser Beamte soll nun selber einer sein?

Eines ist von allen Seiten über Weinreich zu hören: Er rede, wie es ihm gerade in den Sinn komme, provoziere gern. Andere haben noch eine andere Erklärung dafür – und die hängt mit der Hautfarbe zusammen. Weinreich habe es besonders richtig machen wollen in den Männerrunden, immer noch einen drauflegt. Einer der anerkannt werden, dazu gehören wollte. Ein Mann, der unter Beamten – deren Lebensrealität hart ist, die untereinander ins Raue, ins Zynische abgleiten – sich nicht nur einmal im Ton vergriff. Aber ein Nazi? Selbst Beamte, die zum Staatsschutz gingen, weil sie etwas gegen Nazis haben, winken ab.

Wer sich im LKA umhört, bekommt noch etwas mit. Und das hat mit dem Fall Amri zu tun. Als der Tunesier den Anschlag verübt, leitet Lars O. das Kommissariat LKA 541. Bekannt wird die 88-SMS, weil gegen O. ermittelt wurde – wegen Strafvereitelung im Amt und Fälschung von Beweismitteln im Fall Amri.

Am 17. Mai 2017 gegen 16.30 Uhr tritt Innensenator Andreas Geisel (SPD) vor die Presse – auf den Treppen seines Sitzes in der Klosterstraße in Mitte, inszeniert als der starke Mann, der Kurs hält, wenn die innere Sicherheit und der Ruf der Polizei in Gefahr sind. Er verkündet, es sei Strafanzeige gegen Beamte des LKA erstattet worden. Offenbar hätten LKA-Beamte versucht, eine Panne im Umgang mit Amri zu verschleiern. Eine Verhaftung, sagt Geisel, wäre „wohl möglich gewesen“, hätte das Islamisten-Dezernat beim LKA Amri nicht zum Kleindealer herabgestuft. Also Lars O. und seine Kollegen.

Zunächst wird gegen den Sachbearbeiter im Islamistendezernat, Tobias L., ermittelt. Wohnungen und Büros werden durchsucht, Handys beschlagnahmt, Tablets und Computer ausgelesen, Chats und Emails erfasst, 7,3 Millionen Dateien untersucht. Das volle Programm. Vor allem aber: Vor den Augen der Familie wird L. von Beamten abgeführt. Ab 27. Juni 2017 wird auch gegen den Vorgesetzten von L. ermittelt, gegen Lars O..

Auf dem Handy von O. finden Ermittler die SMS von Weinreich. Am 5. Juli „ab 12 Uhr“ führt deshalb die Leiterin des LKA-Staatsschutzes, Jutta Porzucek, ein Disziplinargespräch mit O.. Noch am selben Tag verfasst sie einen zweiseitigen Vermerk über das Gespräch. Demnach hat O. nach der 88-SMS das direkte Gespräch mit Weinreich gesucht und ihm erklärt, „dass er ein solches Verhalten nicht billige und sich zukünftig verbitte“. Weinreich habe sich ihm gegenüber entschuldigt und erklärt, er sei beim Verfassen der SMS betrunken gewesen. Weinreich selbst führte bei seinen Vernehmungen an, es habe sich um einen Spaß unter Insidern gehandelt, einen Scherz mit Bezug auf den Weinbrand „Jacobi 1880“. O. kommentiert das bei dem Treffen mit der Abteilungsleiterin mit den Worten: „Völliger Quatsch.“

Immerhin soll O. damit Erfolg gehabt haben, Weinreich direkt zu konfrontieren. Fortan soll nichts dergleichen mehr geschehen sein, indem dieser solch ein „Verhalten vollständig abstellte“, die „Maßnahme Wirkung zeigte“. Nach dem Gespräch mit O. notiert Abteilungsleiterin Porzucek in ihrem Vermerk, dass sie „keine Zweifel bezüglich seiner Ausführungen habe“, daher „ist dieser Vorgang für mich erledigt“.

Für andere war es das nicht. Sieben Tage nach dem Gespräch, am 12. Juli, wird erstmals in der Presse über die 88-SMS berichtet. Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Versagen bei Amri, Nazi-Verdacht – alles nur ein Einzelfall? Gegen L. und seinen Vorgesetzten O. wird weiter ermittelt. Am 11. April 2018 verkündet die Staatsanwaltschaft: Das Verfahren zur Aktenmanipulation gegen O. und L. wird eingestellt, es gibt, so steht es in dem 81-Seiten-Vermerk, keinen hinreichenden Tatverdacht.

Zwar stellt die Staatsanwaltschaft Fehler fest, L. habe Amri trotz anderer Erkenntnisse im Herbst 2016 zum Kleindealer herabgestuft, er habe ein Drogenverfahren gegen Amri und dessen Mittäter zu spät eingeleitet. Nach dem Anschlag des Islamisten löschte er andere Tatverdächtige aus dem Drogenverfahren gegen Amri. Doch im Kern hat sich der Vorwurf der Manipulation nicht bewahrheitet.

Während der lückenhaften Überwachung von Amri gab es keine Hinweise auf den Terrorverdacht, nur Erkenntnisse zum Drogenhandel. Das musste genügen, um den Tunesier wegen der Terrorgefahr im Blick zu behalten. Doch angesichts der Fülle von Terrorhinweisen spielte Amri für die Ermittler bald keine große Rolle mehr. Statt gewerbs- und bandenmäßigen Drogenhandels vermerkte L. nur „unerlaubter Handel mit Kokain“ und: „Konsument harter Drogen“.

Ob der Islamist tatsächlich nach etlichen anderen Pannen wegen Drogenhandels rechtzeitig hätte gefasst und der Anschlag verhindert werden können, da hat selbst die Staatsanwaltschaft Zweifel. Und sie war selbst beteiligt. Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert, O. und L. hätten als Sündenböcke für „strukturelle Unzulänglichkeiten“ herhalten müssen.

Unzulänglich war damals vor allem die Personalstärke bei den Anti-Terror-Ermittlern. Hohe Arbeitsbelastung, Dauerstress, Personalmangel. Welche Islamisten genauer beobachtet werden mussten, wurde nach Priorität festgelegt, je nachdem, welcher Extremist aktuell als gefährlicher eingestuft wurde. Seit 2014 schrieben die Beamten immer wieder Überlastungsanzeigen. Polizeiführung und Politik zeigten „keine spürbare Reaktion“, wie es in den Akten heißt.

Zur Wahrheit gehört auch: Der damals zum Terrorverdacht gegen Amri federführende Staatsanwalt wusste stets Bescheid. Am 25. Dezember 2016, sechs Tage nach dem Anschlag, trafen sich O. und der Staatsanwalt im LKA. Die Staatsanwaltschaft stellte in ihrem Einstellungsvermerk vom April 2018 fest, dass der Staatsanwalt „den Vorwurf des Kleinhandels“ mit Drogen bei Amri als gegeben ansah.

Strafrechtlich liegt gegen Tobias L. und Lars O. nichts vor. Stattdessen gibt es Disziplinarmaßnahmen. L. bekommt einen Verweis wegen des Umgangs mit den Akten. Er klagt dagegen, mitten im Verfahren greift Innensenator Geisel ein und erhöht die Disziplinarmaßnahme auf eine Geldstrafe von 800 Euro. Neue Klage, neues Verfahren, Ausgang offen. Geisels Innenverwaltung macht Formfehler, die aus Sicht des Verwaltungsgerichts angreifbar sind. Auch der Personalrat des LKA klagt, weil er von Geisel beim Eingriff nicht angehört wurde. Das Verwaltungsgericht gibt dem Personalrat recht, nun liegt die Sache beim Oberverwaltungsgericht. Bis dahin ist der Ausgang im Fall Tobias L. offen.

Beim Verweis gegen O. geht es nicht um Amri. Ihm wurde vorgeworfen, die 88-SMS nicht nach oben gemeldet zu haben. Nachdem Staatsschutzleiterin Porzucek keinen Anlass für ein Disziplinarverfahren sah, mischt sich LKA-Chef Christian Steiof ein. Der Personalrat lehnt das Disziplinarverfahren zunächst ab, dann macht Steiof Druck, von politischer Brisanz ist die Rede, der Personalrat knickt ein.

Der Verwaltungsrichter, der die Klage von O. gegen den Verweis Ende Februar 2020 verhandelt, findet den Vorwurf bizarr. Der Richter fragt die Vertreter der Polizei, wie häufig es in der Berliner Verwaltung bereits Disziplinarverfahren wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die „Dienstpflicht zur Meldung meldewürdiger Ereignisse“ gegeben habe. Dem Gericht ist derlei jedenfalls nicht bekannt, auch die Polizei kann nichts sagen.

Obwohl die Staatsanwaltschaft die Strafermittlungen längst eingestellt hat, strickt Steiof weiter an der Legende gegen O. und L.. Im Frühjahr 2019 wirft er ihnen vor dem Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags Vertuschungen vor. Trotz der Pannen im Fall Amri ist Steiof weiter im Amt, auch anderen Vorgesetzten geschieht wenig, einige steigen sogar auf.

Der ranghohe Beamte Axel Bédé, damals Dezernatschef von O. und L., fällt 2016 auf, weil er trotz der immensen Belastung seines Dezernats durch Terrorgefahr im Nebenjob Zeit für Vortragsreisen hat. Ihm geschieht nichts, er wurde Leiter der ersten LKA-Abteilung, ein prestigeträchtiger Job: Er ist zuständig für die Mordkommissionen. Bédé sagt im Frühjahr 2019 im Amri-Ausschuss des Bundestags, es sei doch bekannt gewesen, dass Michael Weinreich, der Mann mit dem schwarzen Vater, irgendwie rechts sei. Warum hat Bédé dann nichts gegen die angeblichen Umtriebe von Weinreich getan?

Auch Staatsschutzchefin Procuzek ist trotz massiver Kritik aus dem Amri-Ausschuss aufgestiegen. Sie wurde Leiterin der Direktion 1 in Pankow, Reinickendorf und Teilen von Mitte. Ihr Vize im Staatsschutz wurde Stellvertreter des Antisemitismusbeauftragten der Polizei. Sie alle wissen auch davon, dass das Bundeskriminalamt (BKA) im Herbst 2016 Hinweise des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes DST zu Amri und einem weiteren Islamisten nicht vollständig an das LKA Berlin weitergeleitet hat. Diese hätten den Ermittlern in Berlin nach eigener Einschätzung neue Anhaltspunkte geben können, um gegen Amri vorzugehen. Doch im Nachhinein wurde versucht, die Panne zu verschleiern. Zwar machten die Ermittler die Chefs im Februar 2017 darauf aufmerksam. Sie sollten für den Innenausschuss des Bundestages alle Erkenntnisse zusammentragen, dabei stießen sie auf die BKA-Panne – und wurden ausgebremst. LKA-Chef Steiof, ein Mitarbeiter seines Stabes, die Leiterin des Staatsschutzes, ihr Vize, Dezernatsleiter Bédé – alle waren eingebunden.

Lars O. hat das alles hinter sich gelassen, fast. Im Februar berichtete sein Anwalt vor dem Verwaltungsrichter, O. sei von Vorgesetzten beim Staatsschutz bereits klar gemacht worden, dass er versetzt werde. So ist es gekommen. O., der erfahrene Staatsschützer, soll jetzt Verkehrsunfälle aufklären.

Vorbei ist das alles noch nicht. Am Donnerstag soll er vor dem Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags aussagen. Erwartet werde, dass sich Lars O. auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft, teilt der Ausschuss vorab mit. Auch vor dem Berliner Amri-Ausschuss verweigerte er die Aussage. Kürzlich erst entschied das Landgericht Berlin: Er darf die Aussage verweigern.

passiert am 26.10.2020