Sponti in Neukölln-Auswertung und Reflexion

Am Abend des 05.06.2020 lief ein schwarz gekleideter Mob von 200 Leuten durch den Richardkiez und später durch die sanierte Karl-Marx-Straße in Neukölln. Nach vielen Versuchen in der Vergangenheit glückte das Konzept der Sponti wieder in Berlin. Der Charakter einer Sponti ist immer abhängig von den Menschen, die teilnehmen, deren Wut, Vorbereitung und den Inhalten. Es ist ein dynamisches und klandestines Konzept, mit dem flexibel auf die jeweilige Situation reagiert werden kann. Mit relativ wenig Aufwand kann ein gemeinsames Moment auf die Straße gebracht werden, dennoch sollten Rahmenbedingungen im Voraus diskutiert und vorbereitet werden.

Warum Sponti?
George Floyd wurde von einem Bullen brutal ermordet, während andere tatenlos zusahen. Diese rassistische, mörderische Praxis löste in den USA Riots, Plünderungen und Angriffe auf Bullen aus. Und auch hier sind Menschen wütend und voller Hass. Sie suchen Konzepte, um diese Wut auf die Straße zu bringen. Sie nahmen sich an diesem Abend ohne Bullenbegleitung selbstbestimmt die Straße.

Warum Neukölln?
Die Karl-Marx-Straße ist Teil eines breit angelegten Konzepts durch Sanierung den Stadtteil durchzugentrifizieren und Menschen mit höherem Einkommen nach Neukölln zu locken. Unter dem Leitbild „Jung, bunt, erfolgreich – handeln, begegnen, erleben“ soll der zentrale Einzelhandels- und Wirtschaftsstandort gestärkt werden. Doch neben einer neuen Straße mit übersichtlichen Parkmöglichkeiten, werden nach und nach auch globale Firmenketten und teure Lebensmittelläden wie BioCompany angeworben, die die kleinen Familienbetriebe meist migrantischer Menschen verdrängen. Mit dem Zuzug verändert sich nicht nur das Angebot, auch das Preisniveau wächst stetig an. Diese Entwicklung hat nicht nur Einfluss auf das Gewerbe der Menschen, sondern auch auf den Preis des Wohnraums des sich zunehmend sanierten Gebiets.
Die Relevanz von Neukölln für Bullen, Ordnungsamt und rassistische Lokalpolitiker*innen als Ort des Racial-Profiling, wöchentlicher Razzien, sozialchauvinistischer Propaganda und massiver Bestreifung liegt in der Begierde großer Städteplaner*innen und Investor*innen, die diesen Kiez als einen der letzten herrichten und verkaufen wollen.

Es wurde kritisiert, wir hätten uns einen Kiez ausgesucht, in dem viele Migrant*innen wohnen, deren Raum wir damit angreifen. Wir suchen uns jedoch weder die Orte nach rassistischen Kriterien wie Kulturkreisen, Ethnien und Ghetto aus, noch verbünden wir uns nach dem Maßstab der Nationälität. Wir hofften statt dessen auf Affinität in der Ablehnung von Orten des Konsums (BioCompany etc.), der Reglementierung (JobPoint) und der Ausrichtung an dem scheinbar einzig Wichtigen auf dieser Welt, der Kaufkraft (Bankautomaten).
Wer glaubt, es sei ein persönlicher Angriff auf „die“ migrantische Nachbarschaft, wenn bei Rossmann oder Tedi die Scheiben eingehauen werden, behauptet nicht nur, dass sich „die“ Nachbarschaft mit jenen Orten identifiziere, sondern scheint vielmehr von einem anderen Denken über die Berechtigung von Gewalt gegen Orte des Massenkonsums geleitet zu sein.
Es ging vor allem mit Sprechchören, Spraydosen und Flyern los und später mit Steinen gegen ausgewählte Objekte. Wir sollten aufpassen nicht von den Schlagzeilen der Presse geleitet zu werden, die diese Form des Ausdrucks immer als nicht politisch, menschenverachtend und illegitim verorten wird.
Gentrifizierung richtet sich zuallererst gegen die Marginalisierten der Gesellschaft. Rassismus und Verdrängung sind genau in diesem Kiez auf der Tagesordnung. Wir wissen nicht ob Leute vor Ort nicht auch gerne ihre Wut gegen alltäglichen Rassismus auf der Straße ausleben würden. Die Probleme liegen für uns daher vielmehr darin, dass wir es nie geschafft haben in Neukölln eine breite Basis der Solidarität und Gegenwehr aufzubauen und dass unsere Aktionsform viele als Zuschauer*innen zurück lies, statt darin, dass wir uns hier einen Ort „aneignen“, von dessen Dynamiken wir nichts verstünden.
Neukölln ist aktuell ein offensichtliches Ziel rechter Anschlagsserien. Wir wollten sicher niemanden auf den Straßen erschrecken und sollten das nächste Mal ein besser sichtbares Transpi tragen.

Treffpunkt Der Richardplatz war attraktiv für die Sponti, weil er ein Ort mit neuen Möglichkeiten darstellte. Anders als häufig gewählte und auch gescheiterte Startpunkte in Kreuzberg und Friedrichshain war der Charakter der Sponti nicht durch die Örtlichkeit vorgegeben, z.B. durch das einstudierte Bullenkonzept rund um die O-Straße. Dies war möglicherweise ein Grund, warum viele Menschen Lust hatten zu kommen und auch dafür 20 Minuten laufen zu können.

Pünktliches Losgehen
Damit die Sponti lange ungestört von Bullen laufen konnte, war es essentiell, sich nicht lange am Treffpunkt aufzuhalten, sondern zügig loszugehen. Die Zeit, die die Bullen zum Sammeln brauchten, konnte so effektiv genutzt werden. Einige Minuten nach unserem Start hatten mehrere Wannen den Richardplatz bereits erreicht und kontrollierten wahllos Menschen. Diese Wannen hätten ein Ende der Sponti bedeutet, wäre sie 10 Minuten später losgegangen.
In den letzten Jahren hat es sich etabliert, dass Leute später zu Demos und Aktionen kommen. Vor allem bei Spontis sollte ein pünktliches Losgehen geplant und erwartet werden.

Startsignal
Um ein zügiges Losgehen zu verkünden und umstehende Menschen zu mobilisieren, gab es ein Startsignal. Zusammen mit dem Transpi der ersten Reihe und Pyro konnte Sichtbarkeit auf dem größeren Platz hergestellt werden. Der Einsatz des Startsignals hat gut funktioniert. Der typische schleppende Demostart wurde unterbunden und ein schnelles Losgehen ermöglicht.

Charakter der Sponti
Dem Aufruf folgend und zu unserer großen Freude, haben sich viele Leute auf unterschiedliche Weise an der Sponti beteiligt.
So wurden Flyer an Passant*innen verteilt, es wurde viel gesprüht und es gab neben kraftvollen Sprechchören auch kaputte Scheiben.
Nachdem eine Wanne am Startpunkt gesichtet wurde, wurde situativ entschieden, die Sponti trotzdem laufen zu lassen. Sie hätte sich nach dem Bullenbesuch auch einfach als spazierender, lautstarker Mob entwickeln können, der Flyer verteilt. Alles war an diesem Abend möglich.
Dass Menschen nichts von dem militanten Charakter im Vornherein erfahren haben, liegt schlicht daran, dass wir diesen nicht fest gelegt hatten. Es war dem Vorbereitungskreis wichtig, den Charakter der Sponti nicht vorzugeben und Menschen den Raum zu geben, eigenverantwortlich Dinge zu planen und umzusetzen.
Spontis in Berlin sind eine Seltenheit geworden. Das führt offensichtlich dazu, dass Menschen genau wissen möchten, was wie vor sich gehen wird. Dieses Konzept ging hier nicht auf. Zum einen wollten wir schnell auf den Mord an George Floyd reagieren, da bleibt kein Platz für ein Konzept der Absicherung und gezielter Anfragen. Zum anderen finden wir es sehr gut, wenn Gruppen selber entscheiden, wie sie den Charakter prägen wollen. Es ist immer möglich den Beutel auszukippen, genauso wie es möglich ist, einen Gegenstand aufzuheben. Die Wut über die Gesamtsituation, die sich an dem Mord kristallisiert hat, war offensichtlich auch in Berlin gewachsen und Menschen suchen sich ihre Methode dieser Ausdruck zu verleihen.
Wir möchten damit nicht sagen, dass alles zu einer Scherben-Sponti werden kann, es ist auch auch sinnvoll den Charakter und Kleidungsstil vorher klar zu kommunizieren.

Ziele
Entgegen der Medienerstattung wurden nicht wahllos Geschäfte getroffen. Jede Scheibe, die zertrümmert wurde, hatte ihre Berechtigung. Vor allem große Ketten, Gentrifizierungstreiber, Banken und ATMs waren Ziele der wütenden Masse und nicht wie behauptet, kleine Läden migrantischer Besitzer*innen.

Auflösesignal
Es sollte ein Auflösungssignal geben, um deutlich das Ende der Sponti zu verkünden. In der Vergangenheit gab es oft Verwirrungen, da trotz Weitergabe der Info zur Auflösung diese nicht alle erreichte. Leider gab es das angekündigte Signal nicht, weil sich die Sponti bereits im Auflösen befand. Für die Zukunft finden wir es sinnvoll ein Ende zu signalisieren, damit es alle erreicht.

Kritik an der Wahl des Datums
Die Sponti gilt als Beitrag zur Black Lives Matter Bewegung und sollte zeitnah nach dem Mord an George Floyd organisiert werden. Es wurde sich explizit nicht für den selben Tag wie die Großkundgebung am Alex am Samstag entschieden, um diesen Tag und die Medienerstattung nicht zu beeinflussen. Die Aktionsform war Teil des Protestes weltweit und ein Zeichen des Hasses auf das System und Polizeigewalt. Wer beginnt Aktionsformen zu hierarchisieren, begibt sich schnell in das verbreitete Spaltertum, was nur zur Schwächung des gemeinsamen Kampfes und der Solidarität führt.

Ziel sollte sein, viele solcher selbstbestimmten Momente in unserem Alltag zu erleben. Wir können die Cops auch in den bewachten Kiezen überrumpeln und sollten das Selbstbewusstsein wieder aufbauen, dass wir uns die Straße nehmen können ohne Spalier und Kamerateam.
Wir hatten große Freude und fanden die Eingeninitiativen sehr bestärkend.

52678-2.jpeg 52680-1.jpg 52681-0.png