Der türkische Angriffskrieg in Südkurdistan – Die Hintergründe (Teil 1 & 2)
Was bezweckt die Türkei mit ihrem Angriffskrieg in Kurdistan? Warum greift sie genau jetzt an und was sind ihre Pläne bei einem militärischen Erfolg? Diese Fragen behandelt eine Analyse von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.
Die Türkei hat einen neuen Angriffskrieg in Südkurdistan (Nordirak) gestartet und viele haben nun Fragezeichen in ihren Köpfen. Was bezweckt die Türkei mit dieser Offensive? Warum greift sie genau jetzt an? Und was sind ihre Pläne bei einem militärischen Erfolg? Diesen Fragen widmet sich Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit) im ersten Teil einer zweiteiligen Analyse:
Seit der Nacht vom 17. auf den 18. April greift der türkische Staat die südkurdischen Gebiete Zap und Avaşîn an. Diese Gebiete nahe der türkischen Grenze stehen weitgehend unter der Kontrolle der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Vor Beginn der Offensive hat die Türkei über drei Tage hinweg die Zielgebiete breitflächig bombardiert. Als dann der Startschuss zur Operation „Claw Lock“ fiel, kamen Kampfhubschrauber, Kriegsflugzeuge und Kampfdrohnen zum Einsatz. Zudem wird das Gebiet von den türkischen Grenzmilitärstationen aus mit Raketen beschossen. An mehreren Punkten wurden zu Beginn der Offensive türkische Soldaten aus Kampfhubschraubern abgesetzt. Seither kommt es zu schweren militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Guerillaeinheiten und dem türkischen Militär. Beide Seiten haben bereits erste Bekanntmachungen zu Opfern in den eigenen und gegnerischen Reihen gemacht. Die Zahlen unterscheiden sich naturgemäß und lassen sich nicht unabhängig bestätigen. Doch keine Seite bezweifelt, dass die Kampfhandlungen noch über einen langen Zeitraum andauern werden.
Was bezweckt die Türkei mit diesem Angriffskrieg?
Die Türkei unter dem AKP-Regime verfolgt mit diesem Krieg multiple Ziele. Zum Einen wäre da die tief verwurzelte Feindschaft gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Egal, wo die kurdische Freiheitsbewegung agiert und die Interessen der Kurd:innen verteidigt, wird sie zum Angriffsziel des türkischen Staates. Denn die Kriegshandlungen in Südkurdistan sind eingebettet in ein umfassenderes Angriffskonzept gegen die kurdische Bevölkerung. In Nordkurdistan (Türkei) haben die staatlichen Repressionen nach dem kurdischen Neujahrsfest Newroz deutlich zugenommen. Am 21. März strömten Millionen Kurd:innen in ganz Nordkurdistan auf die Straße und feierten nicht nur Newroz, sondern erklärten zugleich, dass sie zur kurdischen Freiheitsbewegung halten. Das konnte und wollte die AKP nicht so stehen lassen. In mehreren Festnahmewellen wurden hunderte kurdische Aktivist:innen seither festgenommen.
Dann gibt es da noch den Kriegsschauplatz Rojava/Nordsyrien. Eigentlich wollte der türkische Staat Ende vergangenen Jahres hier eine neue Großoffensive starten. Als mögliches Ziel stand Kobanê im Raum. Zu jenem Zeitpunkt bekam die Türkei allerdings kein grünes Licht von den internationalen Mächten für einen neuerlichen Krieg und das AKP-Regime konnte damals seine Pläne nicht verwirklichen. Stattdessen intensiviert die türkische Regierung seither ihre Drohnenangriffe in Rojava (30 Drohnenangriffe seit Anfang des Jahres) und beschießt die Städte Nordsyriens mit Raketen (zuletzt am 22. April die Stadt Kobanê). Selbst der IS ist in Nordsyrien wieder aktiv geworden. Und auch hier dürfte die Türkei ihre Finger im Spiel haben. Denn beim Großangriff von IS-Zellen im Januar dieses Jahres in Hesekê sollen zahlreiche Islamisten aus den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens die Stadt infiltriert haben. Die Kriegshandlungen in Südkurdistan können und dürfen nicht unabhängig von den Ereignissen in den anderen Teilen Kurdistans betrachtet werden, zumal der Aggressor überall der türkische Staat ist.
Neben der Bekämpfung der kurdischen Errungenschaften verfolgt das AKP-Regime aber auch neoosmanische Interessen in der Region. Die Besetzung von Efrîn und des Streifens zwischen Serêkaniyê und Girê Spî in Nordsyrien durch die türkische Armee und islamistische Söldner sind allgemein bekannt. Darüber hinaus unterhält die Türkei aber auch zahlreiche Militärstationen in Südkurdistan. Die Gebiete, in welche die Türkei einmarschiert, gibt sie nicht so einfach wieder her. Sie verfügt bereits jetzt über enormen politischen und ökonomischen Einfluss auf die Autonome Region Kurdistan im Nordirak, und allen voran auf die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) unter der Führung des Barzanî-Clans. Langfristig will die Türkei ihren Einfluss bis nach Bagdad ausweiten, wo sie eine ähnliche Rolle wie der Iran spielen möchte. Und hört man in die Talkrunden der türkischen Mainstreammedien, gehören doch die erdölreichen Städte Kerkûk und Mosul im Nordirak ohnehin zur Türkei.
Ein weiterer Faktor für die Militäroffensive, und das wurde bereits in der Vergangenheit zu Genüge zu Wort gebracht, ist die innenpolitische Situation der Türkei. Die ökonomische Krise wiegt schwer. Ein neuer Krieg kommt da gerade richtig. So können die Reihen in der türkischen Gesellschaft durch die Stärkung des nationalistischen Wir-Gefühls (und des kollektiven anti-kurdischen Rassismus) wieder geschlossen werden. Da überrascht es auch nicht weiter, dass der türkische Oppositionsführer der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, über Twitter seine Gebete den „heldenhaften“ türkischen Soldaten im Einsatz widmete.
Warum greift die Türkei genau jetzt an?
Die Antwort auf diese Frage haben wir oben bereits angeschnitten. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für das Timing: Der Ukraine-Krieg!
Viele Kenner von Erdoğans Politik haben einen erneuten militärischen Feldzug gegen die Kurd:innen im Schatten des Ukraine-Krieges erwartet. Denn außenpolitisch bietet dieser Moment fast schon optimale Bedingungen für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Ankaras. Wer will jetzt die Türkei für diese Offensive kritisieren? Etwa der Westen, der gerade seine alte Liebe für die NATO wiedergewonnen hat und deshalb die Partner in Ankara umwirbt? Oder Putin, dessen Krieg in der Ukraine alles andere als geplant verläuft und dem deshalb die Partnerschaft zu Ankara wichtiger denn je ist? Nein, mit außenpolitischer Kritik muss die Türkei gewiss nicht rechnen. Erdoğan ist in der Position, in der sich am wohlsten fühlt: Er wird von den internationalen Mächten gebraucht und umworben. Er weiß diese Position auszunutzen und wird sie bis zum bitteren Ende ausschlachten. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation ist auch mit einer Ausweitung der militärischen Handlungen sowie Kriegsverbrechen der türkischen Armee zu rechnen. Denn mit Gegenwind von internationalen Mächten hat er aktuell nicht zu rechnen.
Was passiert, wenn die Türkei militärische Erfolge verbuchen sollte…
Natürlich hat das AKP-Regime einen klaren Plan. Der aktuelle Krieg in Südkurdistan markiert eine Etappe dieses Plans. Die Guerillakräfte der PKK sollen in die Knie gezwungen werden. Gelingt das in Zap und Avaşîn, dürften die nächsten Gebiete dran sein, die von der PKK in Südkurdistan kontrolliert werden. Auch der türkische Staat weiß, dass die Guerillakräfte eine Sicherheitsgarantie für die Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung darstellen. Wenn militärische Erfolge gegen die Guerilla erzielt werden, dann sind folglich die Errungenschaften an der Reihe.
Die Selbstverwaltung der êzîdischen Stadt Şengal und das Geflüchtetencamp Mexmûr stehen ganz oben auf der Angriffsliste der Türkei. Die jüngsten Provokationen des irakischen Militärs in Şengal stehen ohne Zweifel in Verbindung mit der türkischen Offensive. Immer wieder hat die Türkei diese beiden Orte in der Vergangenheit bombardiert. Im August letzten Jahres wurde sogar ein Krankenhaus in Şengal durch die türkische Luftwaffe angegriffen. Acht Menschen kamen dabei ums Leben. Auch in der Folgezeit sind sowohl in Şengal als auch in Mexmûr bei türkischen Drohnenangriffen immer wieder Menschen ums Leben gekommen. Die Türkei will die Selbstverwaltung dieser beiden Gebiete dem Boden gleichmachen, daran besteht kein Zweifel. Doch nun soll erst einmal die Guerilla aus dem Weg geräumt werden.
Doch auch dabei wird es die Türkei bei einem militärischen Erfolg nicht belassen. Viele gehen derzeit davon aus, dass sie nach möglichen militärischen Erfolgen gegen die PKK eine erneute Offensive in Rojava/Nordsyrien starten könnte. Eine Möglichkeit ist auch, dass sie mit Hilfe des IS die Region destabilisiert, um anschließend ein eigenes militärischen Eingreifen zu legitimieren. Doch auch dabei wird es vermutlich nicht bleiben. Wir hatten bereits erwähnt, dass viele politische Analysten in der Türkei längst ein Auge auf Kerkûk und Mosul geworfen haben. Wer sich erhofft, dass das türkische Militär nach einem möglichen militärischen Erfolg gegen die PKK brav ihre Militärstationen in Südkurdistan räumen und den Rückzug antreten wird, ist jedenfalls sehr optimistisch. Die Türkei verfolgt unter der AKP ganz unverhohlen eine neoosmanische Expansionspolitik. Und in dieser Vorstellung gehört eben nicht nur Rojava, sondern auch Südkurdistan zum großtürkischen Reich.
Im zweiten Teil unserer Analyse werden wir uns mit folgenden Fragen beschäftigen:
Welche Erfolge hatten die vergangenen türkischen Offensiven in Südkurdistan?
Welche Rolle spielen die südkurdischen politischen Parteien im aktuellen Krieg?
Wie reagiert man in Bagdad auf den türkischen Angriffskrieg?
Wie sieht es um die internationalen Reaktionen aus?
Und warum geht uns dieser Krieg überhaupt etwas an?
Der türkische Angriffskrieg in Südkurdistan – Die Hintergründe (Teil 2)
Was bezweckt die Türkei mit ihrem Angriffskrieg in Kurdistan? Warum greift sie genau jetzt an und was sind ihre Pläne bei einem militärischen Erfolg? Diese Fragen behandelt eine Analyse von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.
Im ersten Teil dieser zweiteiligen Analyse haben wir uns angeschaut, was die Türkei mit ihrem Angriffskrieg in Südkurdistan bezweckt und welche mittel- und langfristigen Ziele sie dabei verfolgt. Nun wollen wir zunächst einen Blick auf die vergangenen türkischen Militäroffensiven in Südkurdistan schauen, bevor wir uns mit den Reaktionen auf den neuerlichen Völkerrechtsbruch der Türkei beschäftigen.
Die Liste der grenzüberschreitenden Militäroperationen des türkischen Staates in Südkurdistan ist lang. Tatsächlich erfolgte die erste grenzüberschreitende Militäroffensive der Regierung in Ankara im Jahre 1983, also in einer Phase, als sich die Guerillakräfte der PKK erst noch formierten und den bewaffneten Kampf in der Türkei noch nicht aufgenommen hatten. Mit 7.000 Soldaten intervenierte das türkische Militär fünf Kilometer tief in südkurdisches Territorium, sonderlich erfolgreich verlief die Operation damals nicht. Denn nur knapp eine Woche nach Beginn der Militäroffensive zogen sich die türkischen Soldaten bereits am 2. Juni 1983 wieder zurück. Es folgten unzählige weitere Angriffskriege der Türkei in Südkurdistan. Ab Beginn der 90er Jahre konnte Ankara dabei immer wieder auch auf die Unterstützung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) setzen. Doch bleibende Erfolge für sich verbuchte die Türkei bei keinem dieser Kriege. Ziel der Invasionen war es stets, die PKK vernichtend zu schlagen. Doch trotz unzähligen grenzüberschreitenden Militäroffensiven ist die PKK fast 40 Jahre nach der ersten Offensive weiterhin existent.
Gare-Angriff endete mit einem Fiasko
Die AKP scheint aus diesen militärischen Misserfolgen keine Lehren gezogen zu haben. Im Gegenteil, denn der aktuelle Angriff ist bereits der dritte Völkerrechtsbruch in Südkurdistan seit Anfang 2021. Am 10. Februar 2021 startete die türkische Armee den ersten dieser drei Angriffe. Das Zielgebiet war die Region Gare. Diese Operation dauerte nicht lange und endete in einem Fiasko: Schon nach drei Tagen zog sich das Militär zurück. Zudem kamen aufgrund der schweren Luftangriffe der türkischen Armee zwölf Staatsbedienstete der Türkei, die sich als Kriegsgefangene in der Hand der PKK befanden, ums Leben. Kurz nach dieser militärischen Niederlage startete die Türkei ab dem 23. April einen zweiten Großangriff in Südkurdistan. Die Ziele lauteten dieses Mal Metîna, Avaşîn und Zap. Die türkische Armee hat im Rahmen dieser Operation einige strategische Hügel unter ihre Kontrolle gebracht. Doch in den letzten Wochen und Monaten konnte sie keinerlei Fortschritte machen. Kenner der Region berichten, dass die türkischen Soldaten kaum ihre Stützpunkte verlassen können, da die Guerilla weiterhin das Feld beherrscht. Im Zuge dieses Krieges hat das türkische Militär zudem unzählige Male chemische Kampfstoffe eingesetzt, um die Tunnelsysteme der PKK in den Bergen unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein internationaler Aufschrei gegen diese Kriegsverbrechen blieb allerdings aus. Am 17. April hat die Türkei nun den dritten Angriffskrieg in Südkurdistan in nur knapp 14 Monaten gestartet.
Welche Rolle spielt die Demokratische Partei Kurdistans im aktuellen Krieg?
Welchen Ausgang die aktuellen Kriegshandlungen der Türkei in Südkurdistan haben werden, hängt ein stückweit auch davon ab, welche Haltung die kurdische Bevölkerung und die politischen Parteien in der Region hierzu einnehmen werden. Vor wenigen Tagen hat sich Murat Karayılan im Namen der PKK direkt und mit deutlichen Worten an die kurdische Bevölkerung gewendet: „Unser Volk sollte wissen, wir betrachten diese Phase als Ausnahmesituation. Es ist die Zeit der Mobilisierung. Dementsprechend müssen alle das tun, was ihnen möglich ist. Wir befinden uns in einer sehr wichtigen und kritischen Phase. Sie ist extrem heikel. Wir müssen diese Angriffswelle des Feindes brechen.“
Dieser Appell macht deutlich, wie kritisch die PKK den aktuellen Angriffskrieg der Türkei bewertet. Ein Grund hierfür ist die Haltung der PDK unter der Führung des Barzanî-Clans. Die PDK-Verantwortlichen kamen in den letzten Wochen häufig mit türkischen Regierungsvertreter:innen zusammen. Zuletzt traf der Premierminister der Kurdistan-Region Irak (KRI), Mesrûr Barzanî, mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und dessen Geheimdienstchef Hakan Fidan am 15. April, also zwei Tage vor Beginn der Offensive, in Istanbul zusammen. Bereits zwei Wochen zuvor kursierten hartnäckige Gerüchte in kurdischen Medien, dass die PDK der Türkei bei einer anstehenden Militäroperation in Südkurdistan zur Seite stehen möchte. Es seien sogar Provokationen in Südkurdistan geplant, die der PKK in die Schuhe geschoben werden sollten, um auf diese Weise einen Kriegseintritt der PDK vor der kurdischen Bevölkerung zu legitimieren. Zu den Provokationen kam es nicht. Doch die PDK unterstützt offenkundig den türkischen Angriffskrieg. Bereits am ersten Tag des Krieges hoben türkische Kampfhubschrauber nicht von der türkischen Seite der Grenze zum Angriff ab, sondern von Südkurdistan. Dies geschieht in Abstimmung mit den PDK-Verantwortlichen. Der Plan ist wohl, die von der PKK kontrollierten Gebiete sowohl vom Norden, also von Seiten der türkischen Grenze, als auch vom Süden heraus, anzugreifen.
Am 20. April verteidigte Mesrûr Barzanî bei einem Besuch in London die türkische Militäroffensive in Südkurdistan öffentlich: Es sei nicht die Türkei, sondern die PKK, welche das kurdische Autonomiegebiet in Südkurdistan nicht respektiere. Die PKK ziehe die Türkei nach Südkurdistan rein und sei dafür verantwortlich, dass 800 Dörfer wegen andauernder Kriegshandlungen geräumt werden mussten. Mit diesen Aussagen, die Barzanî bei einem Auftritt bei der Denkfabrik Chatham House von sich gab, stellte er relativ deutlich klar, auf welcher Seite er sich beim aktuellen Angriffskrieg positioniert. Während seines Besuches in London wurde er übrigens von wütenden kurdischen Demonstrant:innen empfangen, die sein Fahrzeug mit Eiern bewarfen.
Und wie sehen die übrigen Reaktionen in Südkurdistan und im Irak aus?
Alle weiteren Reaktionen sowohl in Südkurdistan als auch in Bagdad sind relativ einhellig: Die Patriotische Union Kurdistans (YNK) verurteilt die türkische Offensive ebenso wie das irakische Außenministerium. Auch Muqtada al-Sadr, der Anführer der größten Fraktion im irakischen Parlament, verurteilte den Angriffskrieg und warnte die Türkei. Der Irak werde als souveränes Land nicht gegenüber den türkischen Angriffen schweigen, so Sadr. Sowohl im Irak als auch in Südkurdistan steht die PDK somit allein mit ihrer Unterstützung für Ankaras Offensive da. Ob die warnenden Worte der übrigen politischen Akteur:innen in Erbil und Bagdad ausreichen werden, um den Angriffskrieg tatsächlich zu stoppen, ist allerdings fraglich.
Wie sieht es um die internationalen Reaktionen aus?
Denn in der internationalen Staatengemeinschaft herrscht derzeit großes Schweigen gegenüber dem türkischen Angriffskrieg. Und Schweigen bedeutet in diesem Zusammenhang Zustimmung. Die Türkei nutzt nicht nur den internationalen Fokus auf den Ukrainekrieg aus, um ihre Invasion zu führen. Das AKP-Regime hat wohlmöglich auch grünes Licht von ihren NATO-Partnern für den grenzüberschreitenden Angriff erhalten. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar hatte im Februar dieses Jahres noch die Münchener Sicherheitskonferenz besucht und sich mit den Bündnispartner:innen zweifelsohne auch über die militärischen Pläne seines Landes ausgetauscht. Dort kam es übrigens auch zu einer Zusammenkunft mit einem weiteren Mitglied der Barzanî-Familie, dem KRI-Präsidenten Nêçîrvan Barzanî. Im Anschluss an diese Zusammenkunft erklärte Akar: „Es war ein sehr positives und konstruktives Treffen. Ich bin der Meinung, dass unser Treffen einen bedeutenden Beitrag sowohl für unsere Länder als auch für das NATO-Bündnis leisten wird.“
Der Angriffskrieg in Südkurdistan dürfte demnach mit den NATO-Staaten abgestimmt sein, was das kollektive Schweigen in der westlichen Staatengemeinschaft erklärt. Das gilt auch für die Bundesregierung, die mit ihrer Kritik am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zugleich aber auch ihre Scheinheiligkeit offenbart. Völkerrechtsbruch, Angriffskriege, der (mögliche) Einsatz von chemischen Waffen, Luftangriffe und gezielte Tötung von Zivilist:innen, all das wird zu Recht verurteilt und kritisiert, wenn es um den russischen Einmarsch in der Ukraine geht. Dass aber der NATO-Partner Türkei eben jene Praxis in Kurdistan praktiziert, davor verschließt man in Berlin lieber die Augen.
Und warum geht uns dieser Krieg überhaupt etwas an?
Die Bundesregierung schweigt aber nicht ohne Grund. Sie unterstützt seit jeher den türkischen Krieg in Kurdistan. Das tut sie seit Jahrzehnten und zwar nicht nur mit wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung, sondern auch durch die Kriminalisierung kurdischer Aktivist:innen in Deutschland. Auch im aktuellen Angriffskrieg kommt deutsche Waffentechnik zum Einsatz. Dass die türkischen Kampfdrohnen, mit denen immer wieder Menschen in Rojava und Südkurdistan gezielt ermordet werden, mit Zielerfassungssystemen des deutschen Rüstungsunternehmens Hensoldt ausgestattet sind, hatte das Politmagazin Frontal 21 bereits Ende vergangenen Jahres öffentlich gemacht. Die Türkei gehörte auch im Jahr 2021 zu den Hauptabnehmer:innen deutscher Rüstungsexporte. Ob die Türkei ihre Angriffskriege in Kurdistan weiterhin ungestört führen kann, hängt maßgeblich auch davon ab, ob Deutschland weiterhin ungestört die Türkei bei ihren Kriegen unterstützen kann. Wie weit die staatlichen Stellen in Deutschland gehen, um sich da nicht reinfunken zu lassen, haben sie im vergangenen Jahr eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Als im Juni Aktivist:innen aus Deutschland nach Südkurdistan reisen wollten, um die letzte türkische Invasion in Südkurdistan zu dokumentieren, erteilte die Bundespolizei kurzerhand 16 Personen ein Ausreiseverbot. Wer sich also für den Frieden in Kurdistan einsetzt, könnte in Konflikt mit den außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik geraten.
Dass der Einsatz für Frieden heute wichtiger denn je ist, braucht keine weiteren Ausführungen. Auch eine klare Haltung gegen völkerrechtswidrige Angriffskriege zu haben, ist wichtiger denn je und kann einen Beitrag dazu leisten, zukünftige Kriege zu verhindern. Das alles gilt für den aktuellen Krieg in der Ukraine ebenso wie für Kurdistan. Und wenn die Staatengemeinschaft, auch die deutsche Bundesregierung, zu den Kriegen des AKP-Regimes in Kurdistan schweigt, ja diese sogar unterstützt, dann liegt die Verantwortung umso mehr bei der Gesellschaft. In diesem Sinne können und sollten wir alle unseren Beitrag für ein Ende der Kriege in Kurdistan, in der Ukraine und überall auf der Welt leisten.