Untergangspropheten – Die Reiter der Finanzapokalypse

Chaos an den Börsen, Inflation, kollabierende Lieferketten: Findige Ökonomen machen Geschäfte mit der Angst vor dem Untergang der Weltwirtschaft. Einige sind mit rechten Netzwerken verbunden – und einer, Max Otte, trat bei der Wahl zum Bundespräsidenten für die AfD an.

Ein Mann vom Sicherheitsdienst öffnet die große Glastüre eines länglichen grauen Kastens in bester Kölner Lage gerade so weit, dass sein Kopf zu sehen ist. Er mustert die Reporter, den Fotografen, dann lässt er die Tür ins Schloss fallen, schließt ab und verschwindet im Foyer. Eine Minute später ist er zurück. „Also Herr Otte meinte gerade zu mir, er hätte das Interview doch abgesagt.“

Es ist Mitte Januar, und Max Otte, Ökonom und Experte für die Welt der Finanzen, hatte ein Interview zugesagt. An diesem Morgen muss er es sich anders überlegt haben. Jedenfalls schickt er eine Stunde vor dem Termin, als Reporter und Fotograf längst auf dem Weg zu ihm sind, eine E-Mail.

Er wolle sichergehen, dass am Ende keine „geframte“ Reportage entstehe, also eine Geschichte mit dem Ziel, ihn schlecht aussehen zu lassen. Nun stehen die Reporter vor seiner Tür, und Otte will nicht und nimmt auch ihre Anrufe nicht an.

Es ist derselbe Mann, der sich zwei Wochen später im Berliner Reichstag postieren wird, die Hände vor seinem wuchtigen Körper falten und erklären wird, dass er Bundespräsident werden will, nominiert von der AfD. Der höchste Vertreter des Staates, als Kandidat einer Partei, in der viele Funktionäre die Demokratie verachten.

Bei der Wahl an diesem Sonntag hatte Otte keine Chance. Was er aber in jedem Fall erreicht hat, ist große Aufmerksamkeit. Mal wieder. Otte ist damit bekannt geworden, dass er den Zusammenbruch der Weltwirtschaft vorhersagt.

Er ist Teil einer Gruppe von Männern, die den Untergang nahen sehen. Glaubt man ihnen, wird in absehbarer Zeit das Finanzsystem implodieren, der Euro, die Banken. Und am Ende lösen sich die Ersparnisse ganzer Generationen auf, dann auch die Demokratien, die Zivilisation, die Ordnung der Welt.
Manche nennen sie Crashpropheten

Diese Männer, es sind nur Männer, schreiben Bücher, treten im Fernsehen auf, produzieren digitale Medienformate. Sie verkaufen unter anderem Aktienfonds und Gold. Ihre Bücher, manche Bestseller, haben sich zigtausendfach verkauft, ihre Videos im Internet sehen viele Hunderttausend Menschen.

Sie haben eine Gefolgschaft um sich geschart; wie viele Investoren sie haben, weiß man nicht. So transparent ist der Finanzmarkt selten. Manche nennen diese Männer Crashpropheten, andere Finanzapokalyptiker. In Deutschland sind sie Dutzende, und drei der bekanntesten sind Max Otte, Thorsten Polleit und Thorsten Schulte, der sich Silberjunge nennt.

Die Frage ist, warum Deutschland in ihren Prognosen wie eine düstere Dystopie aussieht und was dahintersteckt. Die Suche nach Antworten führt zum Beispiel zu einer Wanderung ins Bergische Land, ins Frankfurter Bankenviertel, in den Deutschen Bundestag und in ein vornehmes Hotel in Potsdam.

Und am Ende wird ein Netzwerk von Menschen sichtbar, die Politik am rechten Rand machen. Darin sind Männer, die mit Verschwörungsmythen spielen und sie befeuern. Auch solchen, die unter Fachleuten als antisemitisch gelten.

Max Otte, 57 Jahre alt, ist seit Jahrzehnten Mitglied der CDU, bis zu seiner Kandidatur fürs Amt des Präsidenten war er Chef der Werte-Union, einer ultrakonservativen Splittergruppe. Otte schreibt Sachbücher, ein paar wurden Bestseller.

Er hat in den USA promoviert, wurde Professor für Betriebswirtschaftslehre, die längste Zeit war er an der Hochschule Worms. Er hat den Job vor ein paar Jahren aufgegeben, seinen Professorentitel führt er nach wie vor. Das ist erlaubt – und sicher kein Nachteil für seine Geschäfte.

Seit knapp zwei Jahrzehnten verschickt Otte Woche für Woche einen Börsenbrief an Anleger. Er schätzt darin die Finanzmärkte ein, Anlagestrategien, auch bestimmte Aktien. Dieser Service kostet derzeit 514,80 Euro im Jahr, Mehrwertsteuer inklusive, so steht es auf der Webseite seines Unternehmens.

Zwischenzeitlich wurde Otte auch Fondsmanager, seine Gesellschaft betreut im Moment drei verschiedene Fonds, einer heißt „Max Otte Multiple Opportunities Fund“. Diese Fonds verwalten insgesamt rund 240 Millionen Euro. Ottes Unternehmen bekommt jedes Jahr einen Anteil. Wie viel bei Otte selbst landet, ist nirgendwo ausgewiesen.

Im Jahr 2006 veröffentlichte Otte das Buch „Der Crash kommt“. Kaum zwei Jahre später wankte die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers, ging pleite, und eine globale Krise riss das gesamte Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds.

Aus Otte, einem verbeamteten Professor einer kleinen Hochschule in Worms, wurde ein berühmter Mann. Er stritt sich in Fernsehtalkshows mit Politikern, hielt Hunderte Vorträge, Zeitungen und Zeitschriften druckten große Porträts, darin war er „Der Seher“, „Der Prediger“ oder „Der Crash-Prophet“. Er verlinkte die Artikel auf seiner persönlichen Internetseite.
Wie eine Uhr, die fünf vor zwölf stehen geblieben ist

Otte ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit den düsteren Prognosen gutes Geld verdienen lässt. Und auch dafür, dass die Reiter der Apokalypse mit ihren Vorhersagen manchmal richtig liegen, zumindest nicht ganz falsch. Allerdings viel seltener, als sie ihre Fans und die Welt glauben machen.

Denn was nach Lehmans Pleite wie eine Prophezeiung aussah, wirkte in anderen Fällen eher skurril. Im Zuge der Euro-Krise etwa sagte Otte oft, der Euro werde untergehen. Vor zehn Jahren gab er der Währung noch zwei Jahre, die Wahrscheinlichkeit bezifferte er auf 60 Prozent. Später, 2018, legte er sich fest: „Der Euro muss platzen, und er wird platzen.“

Im Grunde ist es wie mit einer Uhr, die fünf vor zwölf stehen geblieben ist. Zweimal am Tag zeigt sie die richtige Uhrzeit an, eine Minute lang.

Ali Masarwah, Fondsanalyst der Internetplattform Envestor, sagt, das sei typisch. Er beobachtet die Investments der Finanzapokalyptiker seit mehr als einer Dekade. „Crashpropheten warnen jedes Jahr“, sagt er. „Und wenn dann der Crash nicht kommt, führen sie das auf eine noch gesteigerte Manipulation durch die böse Macht Europäische Zentralbank zurück.“
Die Strahlen brennen sich in sein Gesicht

Oktober 2021, Köln. Im Erdgeschoss eines Tagungshotels schreitet Otte auf einer kleinen Bühne auf und ab, er trägt ein Headset-Mikrofon, an der Wand hinter ihm flackert eine Präsentation. Otte redet über sich und die Lage der Welt.

Wenn er in die Strahlen des Projektors läuft, brennen sich für einen Augenblick Buchstaben und Zahlen in sein Gesicht. Im Publikum sitzen mehrere Dutzend Menschen, die sich für ihn und seine Investments interessieren.

Otte sagt, „es gibt eine neue Dimension der Krise“. Er verdichtet die vergangenen beiden Jahre zu Sätzen und Schlagworten, Corona, Drohnenangriff in Saudi-Arabien, Klimapolitik, Flüchtlingskrise, Brexit, der Sturm aufs Kapitol in den USA, die Flutkatastrophe in Deutschland.

Es ist ein wilder Ritt durch das Weltgeschehen, er dauert gut neun Minuten. Am Ende sagt Otte, alles hänge miteinander zusammen. Auch mit dem Geld. Er ruft ein „Endspiel um die Neuordnung der Welt“ aus.

Und er, Otte, ist der Welterklärer, der in einer Welt voller Chaos die wichtigen Punkte miteinander verbindet und so die Dinge ordnet. Später stellen Ottes Mitarbeiter den Vortrag als Video auf der Plattform YouTube ins Internet.

Man kann solche Dinge seit einiger Zeit auf vielen Veranstaltungen hören, manche finden in geschlossenen Zirkeln statt, manche kann man sich im Internet ansehen. Manches steht in Marktanalysen.
„Kollektivistisch-Sozialistisches Umgestaltungsvorhaben“

In Frankfurt am Main zum Beispiel verfasst ein Mann mit guten Manieren und sich lichtendem Haar, Chefvolkswirt einer bundesweiten bekannten Goldhandelsgesellschaft, Texte, in denen Politik und Zentralbanken unter einer Decke stecken und „kollektivistisch-sozialistische Umgestaltungsvorhaben“ aushecken. Sein Name: Thorsten Polleit.

Und Thorsten Schulte, der für das Edelmetall Silber wirbt, spricht vor seinem Bücherregal von einer „grenzenlosen Macht“ der Zentralbanken.

Wenn man mit dem Blick dieser und einiger anderer Männer auf Deutschland schaut, kann es so aussehen, als stände die Planwirtschaft unmittelbar bevor und das Volk lebte im Grunde fast wie in einer Diktatur. Und hinter alldem gäbe es einen geheimen Plan. Ausgeheckt von einem Zirkel reicher Akteure, die im Verborgenen agieren und alles in ihrem Sinn steuern.

Die Fakten sind: Die Pandemie hat in zwei Jahren vielen Unternehmen zu schaffen gemacht, in Deutschland wie anderswo in der Welt. Manche Firmen mussten aufgeben; viele können nicht mehr alles herstellen oder verkaufen, was ihre Kunden haben wollen. Autohersteller warten auf Teile, Elektronikkonzerne auf die so wichtigen Mikrochips, die in vielen ihrer Produkte stecken. Zudem ist in Europa und den USA zuletzt die Inflation in Rekordhöhen gestiegen.

Auch die Finanzmärkte haben schon bessere Zeiten gesehen. Seit ein paar Wochen drehen die Indizes der großen Börsen ins Minus. Weltkonzerne straucheln. Und am Ende geht es tatsächlich auch um die Altersvorsorge vieler Frauen und Männer, die dafür hart arbeiten müssen.
Es gebe eine Faustregel: Wo Krisen sind, sei der Antisemitismus nicht weit

Stuttgart, Januar 2022. In einem Büro in der Stuttgarter Innenstadt lässt sich Michael Blume in einen stoffbezogenen Stuhl fallen und entschuldigt sich dafür, dass er etwas müde ist, er habe viel zu tun. Blume, 45 Jahre alt, promovierter Religionswissenschaftler, ist der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg.

Als er 2018 von der Landesregierung ernannt wurde, kam der Antisemitismus schon von allen Seiten, von rechts, von links, aus dem Islam. Seit einiger Zeit beschäftigt sich Blume auch mit den Propheten des Weltuntergangs, mit Männern wie Otte, Polleit und Schulte.

Er schreibt Aufsätze, nimmt Podcasts auf und warnt Sicherheitsbehörden. Die Finanzapokalyptiker, sagt Blume, seien Teil derselben gesellschaftspolitischen Großwetterlage wie die Demonstrationen der sogenannten Querdenker.

Es gebe eine Art Faustregel: Wo Krisen sind, sei der Antisemitismus nicht weit. Immer, wenn es in den letzten Jahrhunderten zu Verwerfungen, Epidemien, Kriegen oder ökonomischen Unruhen gekommen sei, habe es Leute gegeben, die hinter allem die Juden vermuteten.

Nun laufen auf den Demonstrationen gegen die Coronapolitik landauf, landab Frauen mit, die sich als verfolgt wie Sophie Scholl sehen, die Widerstandskämpferin gegen Hitlers Nationalsozialisten. Weil sie sich nicht impfen lassen wollen.

Es gehen Männer auf die Straße, die raunen, dass hinter der Pandemie reiche Juden mit geheimer Agenda stecken. Es gibt den früheren Fernsehkoch Attila Hildmann, der sich selbst als Nationalsozialisten bezeichnet und behauptet, Juden wollten die „deutsche Rasse auslöschen“.
„Es gibt kaum etwas, das enger mit dem Hass auf die Juden verbunden ist als finanzielle Themen“

Blume schüttelt den Kopf, wenn er so etwas hört. Er beobachtet eine Entwicklung, die neuerdings auch Politiker im Berliner Regierungsviertel, Finanzmarktexperten und Verbraucherschützer im ganzen Land besorgt. In längeren Gesprächen sagen viele von ihnen ganz ähnliche Dinge wie Blume in seinem Büro.

Blume kennt nicht nur Spielarten des Antisemitismus, er kennt auch das Finanzwesen. Als junger Mann hat er eine Ausbildung in einer Bank gemacht und später einige Semester Volkswirtschaft studiert, bevor er sich für Religionswissenschaften entschied. Geld, das Thema der Finanzapokalyptiker, ist auch sein Thema.

„Es gibt kaum etwas, das enger mit dem Hass auf die Juden verbunden ist als finanzielle Themen“, sagt Blume. Es sei die alte Erzählung, das kleine Einmaleins des Antisemitismus, dass Juden das Geld kontrollierten und so auch die Menschen.

Blume sagt, dass gerade Otte sehr geschickt scheinbare Zusammenhänge herstelle, wo keine sind. Und in den entscheidenden Momenten achte er darauf, dass er Grenzüberschreitungen nur andeute.
„Unsere Gehirne sollen geimpft werden“

Stuttgart, Mai 2020. Max Otte spricht auf einer Demonstration von „Querdenkern“. Die Pandemie sucht seit gut drei Monaten auch Deutschland heim, und Otte verbindet wieder seine Punkte. Corona, das Geld, die Mächtigen.

Otte sagt, Corona sei noch nicht zu Ende. In Wahrheit sollten nicht die Körper geimpft werden, sondern „unsere Gehirne sollen geimpft werden“. Dahinter ständen finanzstarke Lobbys.

Applaus, Applaus.

Der Ausdruck „finanzstarke Lobbys“, sagt Blume in seinem Büro, sei ein typischer Code aus dem Sprachgebrauch moderner Antisemiten. Die Formulierung erzeuge im Kopf der Menschen das Bild von einflussreichen, wohlhabenden Interessenvertretern, die im Hintergrund agierten. Eben das Klischee des Juden.

Otte schreibt in einer Mail an diese Zeitung, mit dem Begriff meine er „internationale Finanzkonzerne wie Blackrock und ganz sicher nicht Menschen jüdischen Glaubens“.

Es wäre demnach kein Code. Dagegen sagt Blume: „Solche Andeutungen werden verstanden.“ Man könne das ganz gut daran sehen, wer zum Beispiel Max Ottes Nähe sucht.

Juli 2021, Beyenburg. Vor einer Klosterkirche schwatzen etwa vier Dutzend Menschen, über ihnen zwitschern die Vögel. Gesprächsfetzen schwirren durch die Luft, Pandemiepolitik, Zentralbanken, die AfD.

Manche Teilnehmer befestigen Deutschlandfähnchen an ihren Rucksäcken. Otte wird sie durch Wälder und Täler im Bergischen Land führen, „Spaziergang für Deutschland“ nennt er das, Kosten: 24 Euro je Teilnehmer.

Viele der Männer und Frauen erzählen, sie seien langjährige Fans, Abonnenten seines Börsenbriefs, Investoren seiner Fonds, Leser seiner Bücher. Einige sagen, dass sie Ottes Anlageempfehlungen seit mehr als zehn Jahren folgen.

Irgendwo zwischen Beyenburg und Radevormwald legt die Wandergesellschaft einen Stopp ein. Ein Tablett mit belegten Schinkenbrötchen wird herumgereicht. „Herrlich“, sagt einer.

Einige sind nicht wegen Ottes Aktientipps gekommen, sondern wegen seiner Politik, es sind neuere Fans. Ein Rentner etwa sagt, Otte sei eine „spannende Persönlichkeit“, so aufrecht und mit einer klaren Meinung.

Max Otte, Mann der CDU, aber seit Jahren großer Anhänger der AfD, hat sich ein neues Publikum erschlossen. Was für ein Publikum das ist und warum auch das viel mit Geld zu tun hat, darum wird es noch gehen.

Frankfurt, Januar 2022. Im Schatten der Bankentürme im Frankfurter Zentrum liegt eine alte Villa, Firmensitz der Edelmetallhandelsgesellschaft Degussa Sonne/Mond Goldhandel. In einem Besprechungsraum im ersten Stock, viel schweres Holz, Stuck an den Decken, streckt ein groß gewachsener Mann Mitte 50 seine Hand zur Begrüßung aus. Thorsten Polleit, Chefvolkswirt des Unternehmens.

Degussa Goldhandel ist ein Unternehmen des inzwischen verstorbenen Milliardärs August von Finck junior, sein Erbe wird derzeit geregelt. Und Polleit beobachtet die Weltfinanzmärkte, schreibt Analysen für sein Unternehmen, an der Universität in Bayreuth weiht er Studenten in die Geheimnisse der gesellschaftlichen Ordnung ein.

Er hat das Interview schnell zugesagt. Es soll um die ökonomische Lage gehen, um die Inflation, aber auch um Corona und die neue Bundesregierung.

Das Gold, mit dem auch sein Arbeitgeber handelt, gilt als beständige Anlage in Zeiten, in denen wenig beständig ist. Wie Polleit es sieht, ist das Gold „letztendlich auch ein Misstrauensausweis gegenüber dem System“. Alles in allem eine glänzende Sache.

Polleit rät Anlegern gerne zum Gold. Max Otte investiert in Goldminen. Ihnen ist gemeinsam, dass Gold für sie mehr ist als eine Anlage. Gold gehört in die Welt der Finanzen, aber auch in die Welt der Politik. Und so zieht Polleit ähnliche Verbindungslinien wie Otte. Corona, die Wirtschaft, alles ein einziges großes Endspiel.

Polleit sagt, die Lockdowns hätten die Wirtschaft zum Stillstand gebracht. Also hätten die Zentralbanken „künstlich neues Geld“ geschaffen. Das Ergebnis sei, dass die Marktwirtschaft zurückgedrängt würde. Letztlich, sagt Polleit, führe das alles zu einem „großen Umbau unserer Volkswirtschaft“.

Polleit lehnt sich in seinem Stuhl nach vorn, er wägt seine Worte und formuliert druckreife Gedanken, ganz der Professor. Es gibt genügend Wirtschaftsbosse und Ökonomen, die ähnliche Dinge sagen, nicht nur in Deutschland. Das dröhnende Pathos, mit dem Otte oft öffentlich auftritt, scheint Polleit fremd zu sein, wenn man mit ihm zusammensitzt.

In seinen Berichten klingt er allerdings ganz anders.

Da ist zum Beispiel ein Marktbericht aus dem November 2021 für Degussa Gold. Polleit schrieb darin von „politischen Globalisten“ und einer „Interessengemeinschaft von ranghohen Politikern und Bürokraten, Zentralbankräten, Vertretern von Großunternehmen“. Einer „Art Weltregierung“.

Da ist außerdem sein Beitrag im Magazin „eigentümlich frei“, in dem es um „antikapitalistische Kräfte“ geht, die Corona und die Klimakrise nutzten, um eine „Befehls- und Lenkungswirtschaft“ zu errichten. Polleit warnt vor einer „Welteliteregierung“. Sie bestehe aus Big Business, Big Pharma, Big Tech und Big Banking.

Es gibt weitere Beispiele. Es ist das Spiel mit einem Leitmotiv, das der Forscher Blume in seinem Stuttgarter Büro oft liest, oft hört und oft bespricht. Die Behauptung einer Verschwörung.

Und Blume glaubt, dass Polleit und Otte auch Bürgerliche an antisemitische Verschwörungsmythen heranführen. „Wo über Globalisten geraunt wird, sind auch Juden gemeint“, sagt Blume. Die Verächter der Juden, sagt Blume, sprächen nicht mehr offen von Juden.

Es ist Mitte November, mehr als zwei Monate vor dem Interview in Frankfurt, als Polleit im Kongresssaal eines Potsdamer Hotels sitzt. Das Licht, die Augen und das Interesse von etwa 100 Menschen, meist Männern, sind auf ihn gerichtet.

Die Hayek-Gesellschaft hat ihn als Redner zu einer ganztägigen Diskussionsveranstaltung eingeladen. Polleits Thema: „Inflationsdruck – gekommen, um zu bleiben?“

Eine Weile spricht er über die Inflation, zeigt Grafiken, verweist auf seine Bücher. Später, in der Publikumsdiskussion, sagt er, es werde ein „Great Reset“ geplant. Und zwar vom „politischen Globalismus“.

Der „Great Reset“ und der „Globalismus“ sind beliebte Begriffe aus dem Wörterbuch sogenannter Querdenker. Und nach Ansicht von Experten wie Blume stehen auch sie für die Verschwörungserzählung von einem Geheimprogramm der Eliten, die die gesamte Welt derzeit nach ihren Vorstellungen neu ordnen. Natürlich, sagt Blume, zählten reiche Juden wie George Soros zu diesen Eliten.

Das ist auch deshalb interessant, weil die Hayek-Gesellschaft, der Veranstalter dieses Abends, mal eine feste Größe des deutschen Liberalismus war. Die Mitgliedsliste des Vereins, der laut Satzung Forschung „im Geiste Friedrich August von Hayeks“ fördern will, las sich wie ein Who’s who der Wissenschaft und Politik. Der heutige Bundesfinanzminister Christian Lindner gehörte ihr an, der frühere Wirtschaftsweise Lars Feld.

Die beiden sind 2015 ausgetreten. Wie viele andere, die beklagen, die Gesellschaft grenze sich nicht ausreichend von der AfD ab. Auch Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte aus Stuttgart, trat aus. Ehemalige Mitglieder sagen, eine kleine Gruppe habe die ehrenwerte Vereinigung nach und nach gekapert und sie zu einer Splittergruppe am rechten Rand gemacht.

Der Vorsitzende der Gesellschaft, Stefan Kooths, sagt, all das sei „böswillige Diffamierung“, die er in aller Schärfe zurückweise.
Was Sache ist, bestimmen die, die kein Geld vom Staat bekommen

Interessant ist, dass Polleits Chef, der Geschäftsführer der Degussa Gold, im Grunde ganz ähnlich klingt wie Polleit. Markus Krall ist im Sound der Verheerung geübt. Ein Interview hat er abgesagt, er sei derzeit sehr beschäftigt.

Aber man kann sich auch an das halten, was er in Büchern geschrieben hat. „Das monetäre System steht vor seinem Kollaps“, steht in einem. Und der Zusammenbruch biete die Chance „zur Katharsis, zur Reinigung, zur Befreiung der Gesellschaft von den Ketten und Fesseln“.

Geld und Politik. Der Zusammenbruch der Finanzwirtschaft als Möglichkeit zum Umsturz. Notfalls, das ist Kralls These, müsse die Gesellschaft mithilfe einer „bürgerlichen Revolution“ umgekrempelt werden.

Das Deutschland der Zukunft, das ihm vorschwebt, ist demnach eine Gesellschaft, in der das allgemeine Wahlrecht keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Wer Geld vom Staat empfängt, soll nicht mehr wählen dürfen. Was Sache ist, bestimmen die, die keine Gelder vom Staat empfangen.

Jemand mit gutem Einblick in die Firma Degussa Gold sagt, dass Krall „vom Family-Office“ – die Person meint von Finck – nicht trotz seiner Haltung eingestellt wurde. Sondern wegen seiner Haltung. Es gebe sonst auch wenig nachvollziehbare Gründe. Krall wisse wenig über die Besonderheiten der Goldbranche, so der Insider.

Auf Fragen dazu schickt eine Sprecherin Polleits eine Mail, zu den Vorwürfen schreibt sie nichts. Degussa Goldhandel und das Family-Office ließen eine schriftliche Anfrage unbeantwortet.

Krall schreibt eine Mail, er wirft seinen Kritikern eine „Rufmordkampagne“ und „Strategie der Zersetzung nach Stasihandbuch“ vor und kündigt eine Stellungnahme an, lässt aber die Frist verstreichen.

Krall tut, was auch Otte tut. Er hält Vorträge bei der AfD, spricht für sie als Sachverständiger im Deutschen Bundestag. Er scheint gutzuheißen, dass die Partei Otte zu ihrem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten gemacht hat.

In einer öffentlichen Nachricht auf dem Chatdienst Telegram lobte er Ottes „wirtschaftlichen Sachverstand“. Und Otte schrieb über Kralls Buch mit den Umsturzfantasien, es sei „ein Reformprogramm für Deutschland“. Umfassend, durchdacht, „auf den Punkt gebracht“.

Otte und Krall haben einen gemeinsamen Bekannten. Einen Mann mit kurzen Haaren, stets adrett gekleidet, sonore Stimme. Sein Name: Thorsten Schulte. Auch ihn kennt man im Bundestag.
„Die 666“ sei „die Zahl des Tieres, des Antichristen“

November 2020, Berlin. Während unter der Reichstagskuppel Abgeordnete über das Infektionsschutzgesetz diskutieren, zieht eine Gruppe sogenannter Querdenker durch die Flure des Parlaments. Sie bedrängen Politiker, beleidigen sie und versuchen, in Abgeordnetenbüros zu gelangen.

Die Bilder, die die Gruppe selbst gefilmt und live ins Netz übertragen hat, erschüttern das politische Berlin. Es stellt sich heraus, dass Abgeordnete der AfD sie als Gäste eingelassen haben. Unter ihnen auch Schulte.

Nun, im Januar 2021, sitzt Schulte vor einem Terminal, auf dem ständig bunte Zahlenkolonnen aufleuchten. Ein Treffen hat er abgelehnt, Zeitgründe, aber telefonieren könne er. Und wenn noch Fragen offen seien, könne man sich gerne noch einmal melden. Einige wichtige Fragen wird er später nur schriftlich beantworten.

Schulte war früher Investmentbanker. Heute versteht er sich als Berater, schrieb bis zuletzt Berichte über Investments, hielt Vorträge und rühmt sich für seine Vorhersagen an den Märkten der Welt. Im Internet tritt er als Experte auf, der die Welt in schweren Turbulenzen wähnt.

Schulte rühmt die Verlässlichkeit von Edelmetallen, wie seine Kollegen Otte und Polleit. Allerdings bevorzugt er Silber, nicht Gold. Daher der Name, den er sich gegeben hat, Silberjunge.

Silber biete „den besten Inflationsschutz“, sagt Schulte. In der finalen Phase der Inflation steige Silber in der Regel doppelt so stark wie Gold, außerdem werde es von der Realwirtschaft stärker nachgefragt.

In einem der zahlreichen Videos, die im Internet regelmäßig Hunderttausende Menschen anklicken, hat Schulte einmal gesagt, er selbst verkaufe kein Silber. Allerdings sitzt er laut offiziellen Angaben im Verwaltungsrat einer Gesellschaft, die Edelmetalle vertreibt und lagert, zum Beispiel in einem Zollfreilager in der Schweiz.

Dazu will er nichts sagen. Nach Angaben des Unternehmens ist das Lager in einer ausgedienten Bunkeranlage im Gotthard-Massiv, die im Zweiten Weltkrieg als Schutz vor den Nazis diente.

Schulte erzählt, dass auch er dort ein paar Silbervorräte eingelagert hat. Zudem verdient er Geld mit seinen Büchern. „Fremdbestimmt: 120 Jahre Lügen und Täuschung“ stand mal auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste.

Erschienen ist es in einem Verlag namens Verlag für Frieden, Freiheit und Wahrheit, Schulte ist laut Handelsregister als Geschäftsführer verzeichnet. Im Jahr 2019, dem Jahr der Buchveröffentlichung, hat die Verlags-GmbH Bilanzen zufolge einen Jahresüberschuss von mehr als 120.000 Euro erwirtschaftet.

Während Schulte von sich erzählt, seinem Beruf und seinem Blick auf die Welt, klackert an seinem Ende der Leitung eine Computertastatur. Augenblicke später hat Schulte in seinem Computersystem, das Finanzmarktdaten in Echtzeit überträgt, offenbar gefunden, was er beweisen will.

Die Preiserwartungen für die deutsche Industrie: so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Der „Global Supply Chain Pressure Index“ der US-amerikanischen Zentralbank: erhebliche Störungen in den Lieferketten.

Wie andere Reiter der Apokalypse hat Schulte vor einem Systemkollaps gewarnt. Jetzt klingt er so: „Einen Weltuntergang habe ich niemals vorausgesagt.“

Man könnte auf die Idee kommen, Schulte sei einfach ein scharfer Kritiker, der die Politik der Europäischen Zentralbank, Geld praktisch zinsfrei zu machen und es so zu entwerten, für Teufelszeug hält. Er wäre mit dieser Ansicht in der guten Gesellschaft vieler namhafter Experten rund um den Globus.

Die Sache ist nur, dass er auf seinem YouTube-Kanal auch Dinge sagt, für die er wohl eher von Experten für Verschwörungen Beifall erwarten kann. „Nehmt das Folgende bitte sehr ernst“, sagt Schulte in einem seiner Videos dort. Denn was nun folge, werde Augen öffnen.

Seit der Verkündigung des Gesundheitsnotstands und der „Ausrufung“ der neuen Omikron-Variante seien exakt 666 Tage vergangen.

Die Quersumme der offiziellen Omikron-Bezeichnung, B.1.1.529, ergebe 18, wenn man die Ziffern addiere, also dreimal die Sechs. Also wieder 666.

„Die 666“, schreibt Schulte an den Bildschirmrand in seinem Video, sei „die Zahl des Tieres, des Antichristen“.

Man könnte Schulte auch für einen Spinner halten, wenn man dieses Video sieht. Man würde ihn allerdings unterschätzen.

Es gibt mehr als ein paar Ansichten zu Fragen der Wirtschaft, die ihn mit Otte, Krall und Polleit verbinden. Das Bedrängen von Abgeordneten im Bundestag war nicht sein erster Auftritt dort. Er hat Kontakte, in die Politik, in die AfD.
Die „eurasisch-negroide Zukunftsrasse“

Vor etwas mehr als zwei Jahren besuchte er im Bundestag zwei Politiker der AfD. Und weil er schon mal da war, nutzte er die Gelegenheit, um für sein Buch „Fremdbestimmt“ zu werben. Schulte hatte ein paar Exemplare in bräunliche Umschläge verpackt und sorgfältig auf die Sitzbänke neben den Fraktionssälen drapiert, jedes adressiert an Abgeordnete. Auch an Angela Merkel.

In diesem Buch schreibt Schulte zum Beispiel: Mit der „eurasisch-negroiden Zukunftsrasse“ gehe die „nationale Identität und damit der Zusammenhalt“ verloren. Nun, nach dem Telefonat, schickt er auf ein paar Nachfragen dieser Zeitung rund 20 DIN-A4-Seiten per Mail.

Er schreibt, dass er sich auf einer Demonstration in Frankfurt an „alle Menschen gewandt“ habe, ob schwarz oder weiß, ob arm oder reich, ob jung oder alt.

Am Ende, wenn man Linien zieht und sie verbindet, dann ist es so: Schulte und das Silber, das Gold und Polleit und Krall, die Aktienfonds und Otte, alles hängt irgendwie zusammen. Der Ort, an dem ihre Geschichten zusammenlaufen, ist eine Partei im Deutschen Bundestag, die AfD.

Die Degussa soll der Partei Gold geliefert haben, mit dem diese ihre Finanzen aufbesserte, das zeigen Recherchen des „Spiegels“ und der Schweizer „WOZ“. Diese deuten auch darauf hin, dass von Finck mit seinen Unternehmen und Bevollmächtigten die AfD und deren Umfeld kräftig unterstützt hat.

Die AfD, die Goldhändler und die Familie haben sich bisher nicht öffentlich dazu geäußert.

Max Otte macht aus seiner Sympathie für die AfD schon lange kein Geheimnis mehr. Er sagte schon vor fünf Jahren, er wolle sie wählen. Er hielt Referate vor ihrer Bundestagsfraktion, übernahm zwischenzeitlich den einflussreichen Posten des Kuratoriumsvorsitzenden in der parteinahen Stiftung, organisierte Veranstaltungen mit hochrangigen Vertretern der Partei, ließ sich von ihr als Sachverständiger in den Deutschen Bundestag einladen.

Und wenn man sich in der AfD umhört, dann erschien es auch der Partei folgerichtig, ihn zu ihrem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten zu machen. Im Bundesvorstand haben ihn demnach Anhänger und Verbündete des rechtsextremen „Flügels“ durchgesetzt, den es offiziell nicht mehr gibt. Allen voran Parteichef Tino Chrupalla. Der langjährige Parteichef Jörg Meuthen trat nach Ottes Nominierung aus der Partei aus.

„Es ist schade, der Max konnte so ein fröhlicher, kultivierter Zeitgenosse sein“, sagt ein langjähriger Weggefährte Ottes. Dass Otte sich einmal so radikalisieren würde, habe er nicht kommen sehen. Und ein anderer, der die inneren Prozesse der AfD gut kennt, sagt: „Der Otte ist ein Flügelianer. Und zwar einer von den deftigeren.“

Otte sagt auf Anfrage, er habe den inzwischen aufgelösten Flügel „schon früher als rechtsradikal bezeichnet“. Außerdem habe er „nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich völkisches Gedankengut für vollkommenen Stuss halte“.
Er gab einem Rechtsextremisten ein Interview am Holocaust-Gedenktag

Allerdings gibt es Fotos aus dem Jahr 2011, sie zeigen Otte am Grab von Oswald Spengler, einem Philosophen vom rechten Rand der Weimarer Republik, auf dem Münchner Nordfriedhof. Um ihn herum stehen Neonazis und Vertreter des rechtsextremen Instituts für Staatspolitik. Jenes einflussreiche Institut, das Netze zwischen NPD und AfD knüpft und als strategischer Knoten der „Neuen Rechten“ gilt.

Heute will Otte nichts mehr davon wissen. Er habe die Gästeliste nicht gekannt.

Im vergangenen Jahr ließ er sich von einem einflussreichen Schweizer Rechtsextremisten in einem Livestream interviewen, am Holocaustgedenktag.

Am Ende gibt es auch bei ihm eine Verbindung zwischen dem Geld und der Politik. Eine, über die er nicht so freimütig spricht wie sonst. Otte soll der AfD Geld gespendet haben. So zumindest haben Journalisten des NDR und WDR kürzlich berichtet.

Es geht um mindestens 30.000 Euro, 20.000 davon an den Kreisverband des Fraktionsvorsitzenden Chrupalla, vor gut einem Jahr. Jenen Chrupalla also, der Otte als Kandidaten für das Präsidentenamt vorstellte.

Max Otte hat dazu gesagt, er habe die bürgerlichen Kräfte stärken wollen, er spende auch für die Kirche, mit seiner Präsidentschaftskandidatur habe das nichts zu tun. Die Fragen zu seinem Zusammenkommen mit dem Schweizer Rechtsextremisten hat er, der Mann aus dem grauen Kölner Kasten, unbeantwortet gelassen.

Die Recherche. Die Autoren haben seit Sommer 2021 das Milieu der Finanzapokalyptiker erkundet, Veranstaltungen besucht und mit den Akteuren selbst gesprochen. Zudem haben sie deren Bücher gelesen, Unterlagen aus Registern ausgewertet, Finanzmarktdaten analysiert und Internetaktivitäten untersucht. Ferner haben sie mit Weggefährten, AfD-Politikern, Kollegen und Anhängern gesprochen und Schilderungen und Einschätzungen überprüft.

passiert am 13.02.2022