Die Geschichte des Großen Verbrechens

Hannah Arendt ist eine der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Bücher werden überall auf der Welt gelesen. Einer ihrer zentralen Texte zum Holocaust aber wurde nie übersetzt. Hier ist er zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen:

Léon Poliakovs hervorragendes Buch über das Dritte Reich und die Juden ist das erste, das die späten Phasen des Nazi-Regimes strikt auf der Grundlage von Primärquellen darstellt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Dokumente, die bei den Nürnberger Prozessen vorgelegt und von der amerikanischen Regierung unter dem Titel „Nazi Conspiracy and Aggression“ in mehreren Bänden veröffentlicht wurden. Zusätzlich zu beschlagnahmten Nazi-Archiven enthalten diese Bände eine beträchtliche Zahl beeideter Berichte und Affidavits ehemaliger Nazi-Offiziere. Mit wohldurchdachter Hartnäckigkeit erzählt Mr. Poliakov die Geschichte so, wie sie sich entlang dieser Dokumente entfaltet, und vermeidet die Vorurteile und vorgefassten Meinungen, die fast alle anderen bisher publizierten Darstellungen verzerren. Er hat einen Blick für das Wesentliche und verfügt über eine vollständige und intime Kenntnis der komplizierten Verwaltungsmaschinerie Nazi-Deutschlands, der schwankenden Beziehungen zwischen den verschiedenen Diensten sowie des Auf und Ab der diversen Cliquen rund um Hitler.

Die hervorragende Qualität dieses Buches lässt sich an der Fülle von Irrtümern, Missverständnissen und Fehleinschätzungen bemessen, die es in jedem Kapitel korrigiert. Daneben gibt es viele kleinere Richtigstellungen. Nazis wie Alfred Rosenberg, deren Macht allgemein überschätzt worden ist, werden auf ihre tatsächliche Bedeutung zurechtgestutzt; wenig bekannte Fakten wie die erhebliche Rolle, die Österreicher bei der Organisation der Vernichtung gespielt haben, erhalten den Stellenwert, der ihnen gebührt. Und wäre das ganze Dickicht aus Fehlern und groben Verallgemeinerungen nicht gelichtet worden, hätte die Geschichte nicht angemessen erzählt werden können.

Chronologie der Vernichtung

Eine der bemerkenswertesten Leistungen Poliakovs liegt in seiner Rekonstruktion der Chronologie des Vernichtungsprozesses. Über den genauen Zeitpunkt, wann die Gaskammern beschlossen wurden, mag immer noch ein wenig Raum für Mutmaßungen bleiben, aber wir wissen nun mit Sicherheit, dass Hitler – vielleicht nach Gesprächen mit Bormann und Goebbels – den Befehl zum organisierten Massenmord entweder im Herbst 1940 erteilte, als deutlich geworden war, dass der Krieg nicht so bald beendet werden könnte, oder Anfang 1941 während der Vorbereitungen zum Angriff auf Russland. Mit dieser Entscheidung verwarf er zugleich mehrere moderatere „Lösungen“. Dazu gehörte das Madagaskar-Projekt, ursprünglich von Himmler konzipiert und vor Kriegsausbruch offiziell vom Außenministerium übernommen.

Zum Vorschlag gekommen war auch Himmlers Lieblingsidee – die Massensterilisation aller männlichen Juden (sowie der intellektuellen Elite anderer nicht germanischer Völker) durch Röntgenstrahlen; man würde ihnen einfach sagen, dass sie sich vor einem Schalter anzustellen hätten, wo sie einen fingierten Fragebogen ausfüllen müssten, und sie völlig im Unklaren darüber lassen, was mit ihnen geschehen würde. Praktikabler wäre es allerdings gewesen, die Juden in den Gettos verhungern zu lassen – ein Konzept, das „moderate“ Nazis wie Polens Gouverneur Hans Frank favorisierten – oder dafür zu sorgen, dass sie sich zu Tode arbeiteten, wie Goebbels und Heydrich es vorgeschlagen hatten. Hitler wagte es, wie üblich, zur radikalsten Lösung zu greifen, und hatte – ebenfalls wie üblich –, im Blick auf seine eigenen Zwecke recht, weil die Gaskammern die sichersten Ergebnisse versprachen.

Das Madagaskar-Projekt war ein Kompromiss zwischen dem Antisemitismus nationalsozialistischen Typs und älteren, dem deutschen Nationalismus nahen Formen, die im Zionismus eine „Lösung“ der Judenfrage sahen; mit dem Ausbruch des Krieges waren solche Kompromisse jedoch, wie Hitler es auszudrücken beliebte, „von den Ereignissen überholt“ worden. Eine Massensterilisation hatte sich als undurchführbar erwiesen; die Mechanismen dafür funktionierten einfach nicht effektiv. Die Leute verhungern zu lassen war ein langsamer Prozess voller unvorhersehbarer Risiken, in dessen Verlauf sich Epidemien ausbreiten könnten und es unter den Deutschen selbst ebenso wie bei den unterworfenen Völkern womöglich zu unnötigen und langwierigen Diskussionen kommen würde; all das ließ sich durch drastische und unwiderrufliche Maßnahmen verhindern.

Und schließlich war da die Intention, aus den Juden, die ja ohnehin todgeweiht waren und daher gnadenlos ausgebeutet werden konnten, das Maximum an Arbeit herauszuholen; ein Vorgehen, das den Nazis ebenso zusagte wie der Wehrmacht, deren Bedarf an Arbeitskräften beständig stieg. Allerdings krankte dieser Plan an einem inneren Widerspruch: Wenn ein Mensch arbeiten soll, braucht er das für ein mehr oder weniger normales Leben Notwendige, weil er sonst stirbt.

Die Auftrag der „Einsatzgruppen“

Die ersten durch spezielle Truppen, die sogenannten Einsatzgruppen, durchgeführten Massenhinrichtungen fanden unmittelbar nach der Invasion Russlands statt. Im Herbst 1941 wurden Entwürfe für Gaskammern in Auftrag gegeben und kurze Zeit später von Hitler selbst gebilligt. Die ersten mobilen Gaswagen standen ab Frühjahr 1942 bereit, die gewaltigen Todesfabriken in Auschwitz und Belzec ab Herbst 1942. Von da an bis zum Herbst 1944 – das heißt während der gesamten entscheidenden Zeit des Krieges – hatten die Züge, die Juden aus jeder Ecke Europas nach Polen verfrachteten, Priorität vor jeglichem anderen Schienenverkehr, mit Ausnahme von Truppenbewegungen. Entgegen heutigen Vorstellungen war es Hitler, dessen Befehle den systematischen Vernichtungsprozess in Gang setzten, während Himmler eher widerstrebend gehorcht zu haben scheint. Und es war Letzterer, der im Herbst 1944 den Befehl gab, das Grauen zu beenden und die Todesfabriken niederzureißen und vollkommen zu zerstören. Hitler selbst erfuhr nie – offenbar, weil niemand den Mut hatte, es ihm zu sagen –, dass die Aktion, die er als eine seiner größten „Leistungen“ betrachtete, vorzeitig eingestellt worden war.

Die überlebenden Juden und anderen Insassen von Auschwitz und der übrigen Todeslager wurden westwärts vor den russischen Armeen hergetrieben und starben unterwegs zu Tausenden; das Ziel waren „normale“ Konzentrationslager in Deutschland, wo weitere Zehntausende verhungerten, bevor endlich die alliierten Truppen eintrafen. Was die Befreiungsarmeen in diesen Lagern vorfanden, erfüllte sie mit größerem Entsetzen als alles, was sie auf dem Schlachtfeld gesehen hatten, und trug tatsächlich mehr zur Aufrüttelung der öffentlichen Meinung bei als alles, was über die Todesfabriken in Polen hatte durchsickern können – die zu dem Zeitpunkt bereits verschwunden waren, ohne viele sichtbare Spuren zu hinterlassen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Leichen und Überlebenden, die die britischen und amerikanischen Soldaten in Buchenwald und anderswo zu sehen bekamen, überwiegend Opfer des einzigen nicht vorsätzlich begangenen Verbrechens der Nazis waren – nicht vorsätzlich insofern, als es eher das Ergebnis des Chaos während der letzten Kriegsmonate war als Teil eines absichtsvollen Plans. Diese Chronik ist zwar korrekt, erzählt aber nur einen Teil der Geschichte, den jüdischen Teil.

Euthanasie und Massenmord

Poliakov ist der Erste, der die enge Verbindung zwischen dem Massenmord an den Juden und einem früheren Experiment der Nazis, der im ersten Kriegsjahr durchgeführten „Euthanasie“ an 70.000 geistig gestörten oder schwachsinnigen Menschen in Deutschland, versteht und hervorhebt. Nicht nur ging sie dem Massenmord an anderen Bevölkerungsgruppen voraus; Hitlers Befehl vom 1. September 1939 (bezeichnenderweise am allerersten Tag der Feindseligkeiten), alle „unheilbar kranken Personen“ im Dritten Reich zu liquidieren, bereitete den Boden für alles, was folgte. Es war gewiss kein Zufall, dass diese Anordnung nicht in ihrem Wortsinn ausgeführt und außer Geisteskranken niemand getötet wurde; und möglicherweise waren es, wie Poliakov und andere unterstreichen, die Proteste von Familien der Opfer und anderen Deutschen, die dazu führten, dass diese Tötungen nach anderthalb Jahren ausgesetzt wurden. Auch die Tatsache, dass der Beginn des Massenmords an Juden praktisch mit der Beendigung der „Euthanasie“ zusammenfiel, dürfte kein Zufall gewesen sein.

Es sieht so aus, als sei Hitler – entschlossen, sein Rassenprogramm durch organisierten Massenmord in die Tat umzusetzen – zu jeder Zeit dem Weg des geringsten Widerstands gefolgt. Dass er seine ursprüngliche Idee, alle „rassisch ungeeigneten“ Personen, gleich welcher Nationalität, zu liquidieren, nie aufgab, wird an seinem Plan erkennbar, nach dem Krieg ein „nationales Gesundheitsgesetz“ in Deutschland einzuführen, nach dem die Blutsverwandten von kranken Personen, insbesondere solchen mit Lungen- und Herzleiden, nicht länger in der Öffentlichkeit verbleiben könnten und sich nicht mehr fortpflanzen dürften. Was mit diesen Familien geschehen würde, sollte „Gegenstand weiterer Anordnungen“ sein.

Der „Gemütsdefekt“, den wir den Nazis verdanken

Indem er zeigt, dass der erste Tag des Krieges zugleich der erste Tag des organisierten Massenmords war, wirft Poliakov ein neues Licht auf bestimmte Aspekte des Totalitarismus im Allgemeinen und des Nazismus im Besonderen. Erst infolge der durch den Krieg vollzogenen Isolation Deutschlands von der westlichen Welt – und damit auch von faschistischen Gesinnungsgenossen in nicht totalitären Ländern – konnten die dem Nazi-Regime innewohnenden totalitären Tendenzen zur vollen Entfaltung gelangen. Mehr als einmal äußerte Hitler seine Dankbarkeit dafür, dass der Krieg, unabhängig von allem Zweifel und aller Angst hinsichtlich seines Ausgangs, ihm die Gelegenheit verschafft habe, gewisse „Ideen“ zu verwirklichen, die sonst in der Schwebe hätten bleiben müssen.

Der Krieg gewährte Hitler noch einen weiteren „Segen“. Mit dem Pazifismus entstand nach 1918, unter dem Einfluss der neuen Erfahrung maschineller Kriegsführung, die erste ideologische Bewegung, die Krieg per se mit schierem Gemetzel gleichsetzte. Die Nazi-Partei entwickelte sich in den 1920er-Jahren Seite an Seite und in Auseinandersetzung mit dem deutschen Pazifismus. Im Unterschied zu anderen nationalistischen Propagandisten des Militarismus stellten die Nazis die Richtigkeit der pazifistischen Gleichung jedoch nie infrage; vielmehr billigten sie unumwunden alle Formen des Mords und den Krieg als eine davon. Ihrer Meinung nach waren alle Vorstellungen von militärischer Ehre oder Ritterlichkeit, mit ihrer impliziten Berücksichtigung gewisser universeller Gesetze der Menschlichkeit, nichts als Heuchelei, und diese Heuchelei schloss für sie jedes Kriegskonzept ein, das die Niederwerfung des Feindes ohne dessen vollständige Vernichtung vorsah. Für die Nazis wie für die Pazifisten war Krieg gleichbedeutend mit Gemetzel.

Die Maschinerien des Todes

Deshalb warteten sie vermutlich auch bis zum tatsächlichen Ausbruch des Krieges damit, das Tötungsprogramm der „Euthanasie“ in Angriff zu nehmen; wenn so viele gesunde junge Männer an der Front hingemetzelt wurden, so die Überlegung, würden die Deutschen dem Hinmetzeln „wertloser“ Menschen zu Hause nicht viel Aufmerksamkeit schenken, sodass es keinen ernsthaften Widerstand gegen die Durchführung des Programms geben würde. Denn was war der Unterschied zwischen einer und irgendeiner anderen Art des Tötens? Die spätere Erfahrung lehrte die Nazis jedoch, dass die Familien geisteskranker Menschen nicht geneigt sind, auf „Logik“ zu hören, wenn das Leben einer der Ihren auf dem Spiel steht; dies mag der Grund – oder einer der Gründe – gewesen sein, warum Hitler in seinem oben zitierten Entwurf zu einem „nationalen Gesundheitsgesetz“, der wahrscheinlich 1943, also zwei Jahre nach Aussetzung der „Euthanasie“, entstand, auch die Angehörigen kranker Menschen umzubringen beabsichtigte.

Der Zusammenhang von Massenvernichtung und „Euthanasie“ in Deutschland ist eine von Poliakovs wichtigsten Erkenntnissen; er spürt ihr bis in alle Verästelungen nach. Die Ärzte, Ingenieure und anderen Personen, die die Techniken der „Euthanasie“ im ersten Kriegsjahr perfektionierten, um sie auf geisteskranke Deutsche anzuwenden, waren die gleichen, die später mit den Einrichtungen in Auschwitz und Belzec beauftragt wurden. Dass der besagte Zusammenhang wirklich existierte, wird noch überzeugender durch die – sonst unerklärliche – Tatsache, dass in Polen wie zuvor schon in den kleineren Todesfabriken Deutschlands die gleichen Anstrengungen unternommen wurden, die Maschinerie des Todes zu perfektionieren und „das Ziel ohne Quälerei und ohne Todeskampf zu erreichen“.

Grausamkeit und Brutalität, unter den Soldaten und Polizisten, die willkürlich für die Aufgaben in den Konzentrationslagern ausgewählt wurden, noch immer vorherrschend, waren unter den Technikern der Todesfabriken auffällig abwesend. Für sie war der Antisemitismus, wie Himmler es einmal formulierte, wie „Entlausung“, das Rassenproblem eine Frage der „Reinlichkeit“ und die „Lösung der Blutfrage durch Aktion“ die Beseitigung „kontaminierender Elemente“.

Ein weiterer bedeutender Beitrag Poliakovs besteht darin, dass er mit der Legende aufräumt, die deutschen Offizierskorps und alten Staatsbediensteten aus der Zeit vor Hitler, insbesondere im Außenministerium und im diplomatischen Korps, hätten entweder nicht gewusst, was vor sich ging, oder, wenn sie es wussten, dagegen protestiert. General Jodl selbst hatte das Für und Wider der Vernichtungspolitik hinsichtlich der deutschen Moral sorgfältig abgewogen und war zu dem Schluss gelangt, dass die offensichtlichen Belastungen durch einen entscheidenden psychologischen Faktor mehr als wettgemacht würden – der durchschnittliche deutsche Soldat würde besser kämpfen, wenn er wüsste, dass er alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte und sich in unauflöslicher Komplizenschaft mit Tätern befand, die ein ungeheuerliches Verbrechen begingen. Wehrmachtseinheiten, nicht SS-Truppen, initiierten die sogenannte Heuaktion, bei der etwa vierzig- bis fünfzigtausend Kinder aus Osteuropa gekidnappt und nach Deutschland gebracht wurden. Und es war der Unterstaatssekretär Luther, der zusammen mit den deutschen Militärbehörden für die Auslöschung der serbischen Juden verantwortlich zeichnete.

Gab es auch Widerstand?

Natürlich protestierten einige Deutsche, Nazis wie Nicht-Nazis. Poliakov zitiert aus einigen der schriftlich niedergelegten Proteste. Vielleicht nicht ganz zu Recht zeigt er sich erstaunt über die Argumente, die dort verwendet werden, nämlich militärische und wirtschaftliche Nachteile, die nervliche Belastung der Vollstrecker sowie die negative Auswirkung auf die Moral der deutschen Truppen und besiegten Völker. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Proteste überhaupt hätten geäußert werden können, wenn darin moralische Bedenken geltend gemacht worden wären. Bemerkenswerter ist es, dass weniger Protest von Angehörigen der militärischen oder zivilen Hierarchie kam und mehr, vermutlich, von alten Nazi-Parteimitgliedern und sogar SS-Führern.

Bis dato ist nicht genügend anerkannt worden, dass das einzige Land aufseiten der Nazis, das die Juden entschlossen und effektiv abschirmte, Deutschlands wichtiger europäischer Verbündeter Italien war. (Ein zweites Zentrum der Zuflucht für Juden scheint in den Gebieten von Kroatien gewesen zu sein, in denen Titos Partisanen fest etabliert waren.) Poliakov erörtert diese italienische Episode ausführlich im Zusammenhang mit der Haltung Vichy-Frankreichs gegenüber Juden, die er vollständig und akkurat darstellt. Vichys Bereitschaft, gerade hinsichtlich des Antisemitismus zu kooperieren, war groß und gibt Anlass genug zu glauben, dass Adolf Eichmann, der Organisator der Deportationen von Juden aus allen Teilen Europas, die Psychologie der Vichy-Franzosen keineswegs falsch einschätzte, als er ihnen in einem ausgesprochen kritischen Moment sogar mit der Möglichkeit drohte, „Frankreich als eines der Länder jüdischer Evakuierung auszuschließen“.

Poliakovs Integrität und Objektivität

Nirgends kommt Poliakovs Integrität und Objektivität besser zur Geltung als in seiner Schilderung der Gettos und der Rolle ihrer Judenräte. Er äußert weder Be- noch Entschuldigungen, sondern berichtet vollständig und wahrheitsgetreu, was die Quellen ihm sagen – über die wachsende Apathie der Opfer ebenso wie deren gelegentliches Heldentum, das furchtbare Dilemma der Judenräte, ihre Verzweiflung ebenso wie ihre Verwirrung, ihre Komplizenschaft und ihre bisweilen herzergreifend irrsinnigen Ambitionen. In der berühmten und sehr einflussreichen Reichsvertretung der Deutschen Juden, die reibungslos funktionierte, bis auch der letzte deutsche Jude deportiert worden war, erkennt er den Vorläufer der Judenräte der Gettos in Polen; er verdeutlicht, dass die deutschen Juden den Nazis auch in dieser Hinsicht als Versuchskaninchen dienten, ermöglichten sie es ihnen doch zu erforschen, wie man Menschen zur Mitwirkung bei der Vollstreckung ihrer eigenen Todesurteile bringen konnte, womit die letzte Schraube im totalitären Plan der totalen Herrschaft festgezogen war.

Dies sind nur ein paar Stichproben aus der ungewöhnlichen Fülle neuen Faktenmaterials, das dieses Buch liefert. Jeder, der wissen möchte, „was wirklich geschah“ und „wie es wirklich geschah“ – wobei das „Was“ und das „Wie“ nicht nur die furchtbarste, sondern wahrscheinlich auch die bedeutsamste Erfahrung unserer Generation sind –, kann es sich nicht leisten, diese Untersuchung zu übersehen, und täte vielleicht sogar am besten daran, mit ihr zu beginnen. (Leider hat sich bisher noch kein amerikanischer Verleger dafür interessiert.)

Streng auf Quellenbasis

Dass sich das Buch streng an die Dokumente hält und jede Mutmaßung konsequent verweigert, steht in krassem Kontrast zu einem beunruhigenden Typ „neudeutscher“ Literatur, die in letzter Zeit in jenem Land erschienen ist. Denn unter dem Vorwand, das „Was“ und das „Wie“ dessen zu liefern, was unter Hitler wirklich geschah, präsentiert sich uns hier ein abstoßendes Spektakel, in dem Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und Ehrgeiz in ihrer schlimmsten Form zutage treten: Während die Leute von zivilem und militärischem Rang ihre allzu offensichtliche Mittäterschaft bei Hitlers Verbrechen leugnen, sind sie nichtsdestoweniger eifrig bemüht, der Welt zu zeigen, welche enorm wichtigen und angesehenen Rollen sie unter ihm gespielt hätten – und folglich in Zukunft erneut zu spielen imstande seien.

Auf den zweifelhaften Wert dieser Memoiren und Autobiografien als Quellenmaterial ist von kompetenten Instanzen wieder und wieder hingewiesen worden, was ihre Popularität in Deutschland jedoch nicht gemindert hat. Das liegt auch daran, dass die deutsche Öffentlichkeit den berechtigten Wunsch hat, die grundlegende Wahrheit über eine Reihe von Ereignissen zu erfahren, die dermaßen entsetzlich waren, dass die realen Fakten – wie man annimmt – hochgeheim gehalten wurden und deshalb nur von Beteiligten korrekt geschildert werden könnten. Von dieser Warte aus betrachtet, scheint es plausibel, dass die „Geständnisse“ eines Mannes umso wertvoller scheinen, je prominenter er im Nazi-Regime war.

Zur Wahrheit, die Poliakovs Buch einem klarmacht, gehört auch, dass die Geheimnisse des Nazi-Regimes von den Nazis selbst gar nicht so streng gehütet wurden. Wenn unsere Zeit in Zukunft vielleicht einmal als das „Zeitalter des Papiers“ in Erinnerung bleiben wird, dann verhielten sich die Nazis ungeheuer zeitgemäß. Heute kann niemand, der eine offizielle Position bekleidet, auch nur die geringste Maßnahme ergreifen, ohne augenblicklich eine Flut von Akten, Memos, Berichten und öffentlichen Verlautbarungen auszulösen.

Die Nazis haben Berge von Unterlagen hinterlassen, die es unnötig machen, dass wir unseren Wissensdurst dadurch löschen, dass wir den Erinnerungen von Leuten trauen, die ohnehin nicht vertrauenswürdig waren. Hitlers großer Ehrgeiz war es, ein tausendjähriges Reich zu gründen, und seine große Angst bestand darin, dass sich im Falle einer Niederlage in künftigen Jahrhunderten niemand an ihn und seine Gefolgsleute erinnern würde. Die Verwaltungsbürokratie war nicht nur eine Notwendigkeit, die den Nazis von den Organisationsmethoden unserer Zeit aufgezwungen wurde; sie war auch ein Phänomen, das sie enthusiastisch begrüßten und erweiterten, und so hinterließen sie der Geschichte, und für die Geschichte, maschinengeschriebene Zeugnisse jedes einzelnen ihrer Verbrechen in mindestens zehn Kopien.

Ein Mysterium bezüglich des Nazi-Regimes gibt es, aber es hat mit Geheimnissen nichts zu tun. Es liegt einzig und allein in einer menschlich unvermeidbaren Reaktion, die uns immer weiter fragen lässt: „Warum – aber warum?“, noch lange nachdem alle Tatsachen geschildert, alle Stadien des Prozesses erfasst, alle vorstellbaren Motive berücksichtigt worden sind. Abgesehen von ein paar nicht allzu relevanten Bemerkungen über den deutschen Nationalcharakter, stellt Poliakovs Buch diese Frage nicht und unternimmt auch keinen Versuch, sie zu beantworten. Andererseits unterdrückt es sie aber auch nicht; der Autor ist zu gewissenhaft und seine intellektuelle Integrität zu groß, um sich mit solchen wohlfeilen soziologischen und psychologischen Rationalisierungen zufriedenzugeben, wie sie für den modernen Menschen zur Zuflucht vor der Wirklichkeit geworden sind. Genau dieser Punkt ist es – diese Entschlossenheit, jede einfache Erklärung zu verweigern –, der meiner Meinung nach zum entscheidenden Kriterium gemacht werden sollte, an dem man alle Versuche, diese erst kürzlich geschehenen und beispiellosen Ereignisse zu beschreiben und zu erklären, messen sollte.

Die Gefahr des Totalitarismus

Nur wenn der Leser, nachdem alles über die Massenmorde greifbar und plausibel gemacht worden ist, seine erste Reaktion des ungläubigen Entsetzens weiterhin fühlt, nur dann wird er in der Lage sein, allmählich zu verstehen, dass der Totalitarismus, anders als alle anderen bekannten Formen der Tyrannei und Unterdrückung, ein radikal Böses in die Welt gebracht hat, das sich dadurch kennzeichnet, dass es von allen menschlich verständlichen Motiven der Schlechtigkeit losgelöst ist.

Es wäre der größte Irrtum zu meinen, diese Gräuel seien eine Sache der Vergangenheit. Konzentrations- und Vernichtungslager sind die neuesten und bedeutsamsten Werkzeuge aller totalitären Herrschaftsformen. Berichte über das sowjetrussische System, dessen „Zwangsarbeitslager“ getarnte Vernichtungslager seien, sind zahlreich und vertrauenswürdig genug, um den Vergleich mit dem Nazisystem gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Die Unterschiede zwischen beiden sind real, aber nicht radikal; beide Systeme haben die Auslöschung von Menschen zur Folge, die als „überflüssig“ aussortiert werden. Die Entwicklung dieses Begriffs der „Überflüssigkeit“ ist eine der zentralen Katastrophen unseres Jahrhunderts und hat seine entsetzlichste „Lösung“ hervorgebracht. Den Nazismus zu erforschen, der heute häufig als „lediglich“ historisches Ereignis kleingeredet wird, ist daher unverzichtbar für unser Verständnis der Probleme der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft.

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.

Der Originaltext von Hannah Arendt erschien in „Commentary“ (March 1952, Volume 13, Number 3).