„Ich bin hier ganz allein und besetze Kreuzberg“

Der Lieferdienst Gorillas wollte nichts weniger sein als der Supermarkt der Zukunft. Aber dann fingen die Fahrradkuriere an zu streiken. Eine kleine Geschichte des Turbokapitalismus an einer Berliner Straßenkreuzung.

Sie sind einsame Geschöpfe. Schwarz wie die Nacht sausen die Rider durch die Straßen. Steigen vom Fahrrad, drücken die Türklingel, wuchten den großen Rucksack auf einen Fußabtreter, überreichen dem Kunden eine Papiertüte. Dann fädeln sie sich wieder ein in den Straßenverkehr. Und wieder tickt die Uhr. Sie tickt immer.
Die Rider, wie das Berliner Start-up Gorillas seine Kuriere nennt, bringen Supermarkt-Artikel mit dem Fahrrad an die Haustür. App auf, zwei Mangos, drei Augustiner Helle, einmal Klopapier, bitte – und in spätestens 600 Sekunden klingelt es an der Haustür.
Gorillas will den klassischen Supermarkt durch eine digitale Plattform ersetzen, so wie Amazon es mit dem Einzelhandel tut. Der Lieferdienst ermöglicht den Menschen, woran mancher sich im Verlauf der Pandemie gewöhnt zu haben scheint: zu Hause zu bleiben. Dazu kommt ein Schuss Turbokapitalismus – Geschwindigkeit um der Geschwindigkeit willen. Der Slogan des Unternehmens lautet: „Faster than you.“

„Order ready, go, go, go“. Und dann haben die Ausfahrer gerade mal zehn Minuten

Die Faszination war gewaltig, als Gorillas vor etwa einem Jahr die ersten Rider losschickte. Investoren überschütteten das Berliner Start-up mit Geld, im Frühjahr war es bereits eine Milliarde Dollar wert. Als es Sommer wurde, strebte Gorillas eine Bewertung von sechs Milliarden Dollar an. Etwa so viel, wie die Lufthansa im Moment an der Börse wert ist. Doch mitten im Rausch organisiert eine kleine Gruppe unzufriedener Rider spontane Streiks und Proteste. Sie spricht laut und öffentlich darüber, unter welchen Arbeitsbedingungen der digitale Supermarkt der Zukunft entsteht. Das macht Schlagzeilen, die Investoren abschrecken könnten.

Mitten im Trubel, auf einer Bierbank an der Kreuzung Muskauer Straße und Eisenbahnstraße in Berlin-Kreuzberg, sitzt Zeynep Karlıdağ. An dieser Straßenkreuzung lässt sich an einem verregneten Nachmittag alles beobachten – der Aufstieg und möglicherweise auch der beginnende Fall des wohl am stärksten gehypten deutschen Start-ups des Jahres.
Die Rider tragen schwarze Regencapes, es gießt seit Stunden, nur Karlıdağ trägt Jeans und eine bunt gemusterte Vintage-Strickjacke. Sie hat heute frei. Gegenüber vom Warehouse, wie Gorillas seine Warenlager nennt, hat ein Dönerimbiss Tische auf die Straße gestellt, von dort beobachtet sie die schwarzen Gestalten beim Ausschwärmen. Ihre Kollegen wissen, dass sie beim „Gorillas Workers Collective“ ist, das die Streiks und Proteste organisiert.
Die junge Türkin kam Anfang des Jahres für ein Masterstudium nach Berlin und brauchte einen Job. Wie so viele vor ihr, die kaum Deutsch sprechen, landete sie bei einem Lieferdienst. Bei Gorillas. „In Deutschland habe ich Redefreiheit, also werde ich sie benutzen, bis zum Ende“, sagt Karlıdağ, lacht und dreht eine Zigarette nach der nächsten.
Anfangs habe sie den Job geliebt, sagt sie. Mit anderen jungen Menschen aus der ganzen Welt zusammen zu sein, wie in einer Jugendherberge, nur dass ständig einer „Order ready“ ruft, „go, go, go“, und dann hat man zehn Minuten. Wer zu langsam ist, dem passiere erst mal nichts, aber der Druck sei da. Irgendwann sei sie auf die blauen Flecken angesprochen worden. „Hier“, sagt Karlıdağ und zieht ihre Jacke am Rücken ein Stück nach oben. Ein Mosaik unterschiedlicher Blautöne. Wegen der schweren Rucksäcke, sagt sie. Der Job sei gefährlich, die Ausrüstung miserabel. „Wir sind Gorillas, egal.

Am Tag zuvor hat sie bei einem Protest vor den Büros von Gorillas Kağan Sümer getroffen, den Gründer des Start-ups. Er stammt wie sie aus der Türkei und hat, wie sie, an einer Elite-Universität studiert. Vorher war er Kapitän der türkischen Jugendnationalmannschaft im Wasserball. Das Zusammensein in der Umkleidekabine habe er geliebt, schwärmte er mal in einem Interview, das Gemeinschaftsgefühl, die Techno-Musik vor dem Spiel, das Einpeitschen. Diese Atmosphäre habe er in den Gorillas-Lagern erzeugen wollen, anfangs lief dort immer elektronische Musik.
An diesem Tag ist aus dem Kreuzberger Warehouse keine Musik zu hören. Die ehemalige Bankfiliale ist voller Stahlregale, ansonsten fast leer. Junge Menschen packen Einkäufe in Tüten, reichen sie anderen jungen Menschen über den Tresen am Eingang. Davor Raucher, Fahrräder, viel Betrieb. Spanische und englische Sprachfetzen sind zu hören.
Ein Freund komme gleich noch vorbei, sagt Karlıdağ dann. Kurz darauf steht ein Mann, etwa vierzig, in orangefarbener Lieferando-Jacke auf der Kreuzung im Regen und guckt sich um. Die beiden setzen sich auf die Bierbank, er fummelt die Kopfhörer aus dem Ohr, über die ihm die App sagt, wohin er als nächstes fahren muss. Unter der Jacke trägt er eine Umhängetasche mit Ersatzakku, Ersatzhandy, Trinkgeld. Sein Handy sei heute im Regen mal wieder kaputtgegangen, sagt er, er habe es privat bezahlt. Ob ihm das Unternehmen die Kosten erstatte? Er lächelt. „Lieferando zahlt gar nichts.“ Seinen Namen möchte er nicht sagen, die Arbeitgeber würden einen ja heute googeln, wer wolle sich da noch öffentlich beschweren?
Er hat gerade Pause. Zehn Minuten habe er noch Zeit, dann müsse er kurz nach Hause, sich etwas Trockenes anziehen und dann zurück auf die Straße.
Der Mann hat schon einmal erlebt, wie Lieferdienste sich auf dem Rücken der Fahrer einen Krieg lieferten. Noch vor drei Jahren kurvte eine Vielzahl von Essenskurieren in unterschiedlichen Farben durch deutsche Innenstädte – bis der eine den anderen schluckte und, zumindest zeitweise, nur ein orangefarbener Gigant übrig blieb: Lieferando.

Nicht nur die Anrufe sind automatisch, sondern auch die Abmahnungen

Auch dort gebe es eine informelle „Workers Union“, sagt er, aber die sei kaum präsent und schlagkräftig – ganz anders als die von Gorillas. Das liege vielleicht daran, dass es dort die Warenlager gebe, in denen die Boten auch mal herumsitzen und ins Gespräch kommen. Bei Lieferando seien sie ständig unterwegs, dirigiert durch die App, die sie quer durch die Stadt schicke. Und wenn man einmal andere Fahrer vor einem Restaurant treffe, könne man nicht herumtrödeln und plaudern, sonst gebe es Ärger – automatische Anrufe, automatische Nachrichten, automatische Abmahnungen. Wie solle man sich da organisieren?
Kaum einer seiner Kollegen sei gebürtiger Deutscher, ständig wechsle die Belegschaft, sagt er. Auch er, ein Berliner, wolle nun endlich den Absprung schaffen. „Das ist etwas, was das Gorillas Workers Collective geschafft hat: als Gruppe zusammenzubleiben.“ Ordentlich Radau zu machen. Er schaut Karlıdağ an wie ein stolzer großer Bruder. Regenwasser läuft ihm aus den Haaren über das Gesicht.
Zeynep Karlıdağ schaut von ihrem Handy auf. „Guys“, sagt sie, „Pankow ist besetzt.“ Im Warehouse im Berliner Norden habe es nicht genug Regenkleidung gegeben. Deshalb weigerten sich die Rider, weiter auszufahren. „Kommt ihr mit?“
Da vibrieren auch schon die Handys. Das Workers Collective betreibt einen Telegram-Kanal, Zeynep Karlıdağ hat dort die Nachricht vom Streik in Pankow abgesetzt: „Sprecht mit euren Kollegen, lasst sie wissen, was passiert!“ Der Lieferando-Fahrer lächelt, wünscht gutes Gelingen. Er werde sich vielleicht nach seiner Schicht anschließen. Karlıdağ geht raus in den Regen, über die Straße zum Warehouse auf der gegenüberliegenden Seite. Schwarzgekleidete Rider stehen da unter einem Balkon, Gewusel.

Zeynep Karlıdağ hebt die Stimme. „Alle mal herhören, die Leute im Pankow Warehouse streiken, weil sie keine anständige Regenkleidung haben. Wer sich anschließen möchte, kann sich anschließen.“ Skeptische Blicke. Schweigen. „Aber wir haben doch Regenkleidung“, sagt einer. Es gehe nicht nur um Regenkleidung, sagt Karlıdağ, sondern auch um alles andere. „Die werden niemanden von uns feuern! Die Firma hat Angst vor uns!“ Einer der Jungs sagt, er sei müde und klatschnass, die Schicht sei gerade zu Ende, er wolle nach Hause unter die Dusche. Andere stimmen zu.
Also geht Karlıdağ allein. Aber auf halber Strecke zur U-Bahn-Station überlegt sie es sich anders und kehrt um. Zurück beim Lager nimmt sie eine Bierbank, stellt sie vor den Eingang, setzt sich darauf und versperrt den Durchgang mit beiden Händen. „Ich besetze jetzt dieses Warehouse“, sagt sie. Die Rider sammeln sich um sie und betrachten sie neugierig. Zeynep Karlıdağ scheint zu spüren, dass sie Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen. Sie nimmt ihr Handy und schickt ihren Kollegen vom Workers Collective eine Sprachnachricht: „Ich bin hier ganz allein und besetze Kreuzberg“, sagt sie. „Kommt bitte.“

Einige Minuten später, in denen sie wie ein Protest-Denkmal aus einer anderen Zeit dort sitzt, mit ausgebreiteten Armen, steigt ein junger Mann im Kapuzenpullover aus dem Warehouse an ihr vorbei. Offenbar ist er hier zuständig. Er verkündet, dass er den Betrieb vorübergehend einstellen werde. Auf einem Bildschirm im Inneren des Warehouse, der über dem Tresen angebracht ist, verschwinden die Namen der verfügbaren Fahrer, einer nach dem anderen. Gorillas ist bezwungen. Für heute zumindest.

Zeynep Karlıdağ sitzt auf der Bierbank und lässt sich fotografieren, um die Bilder später posten zu können. Das Kollektiv betreibt einen Twitter-Account mit mehr als elftausend Followern, die jungen Menschen geben Interview um Interview. Bis in die Bundesregierung dringt der Lärm. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wird wenige Wochen später nach Kreuzberg kommen und mit ihnen sprechen. Direkt neben ihm wird eine junge Türkin stehen, Zeynep Karlıdağ.
Solche Bilder sind für Gorillas gefährlich. Das Start-up hängt von der Gunst von Investoren ab. Derzeit verdient es kein Geld, sondern verbrennt Unmengen an Risikokapital für sein Wachstum, das berichtet vertraulich ein hochrangiger Manager. Erst wenn Gorillas genügend Umsätze von den Supermärkten übernommen und die Mitbewerber wie Flink, Getir, Grovy, Foodpanda oder Wolt verdrängt hat, die ebenfalls das Amazon der Liefer-Supermärkte werden wollen, kann das Unternehmen profitabel werden. Aber dafür muss es wachsen, und zwar schneller als die Konkurrenz.
Bis zu 500 Warenlager will Gorillas bis Ende des Jahres in sieben Ländern betreiben, etwa fünf Mal so viele wie heute. Wo sollen all die Fahrer herkommen, die bereit sind, so zu arbeiten, wenn weiter Geschichten über zu spät oder gar nicht ausgezahlte Löhne, Stürze, mieses Equipment und blaue Flecken zirkulieren? Funktioniert das Geschäftsmodell überhaupt, wenn ein Kollektiv mit einer gereckten Gorillafaust auf rotem Grund als Logo den Kollegen deutsche Arbeitnehmerrechte erklärt?

„Fuck off, Gorillas“ steht auf einem Transparent. Einige Nachbarn sind offenbar genervt

Während des Streiks fährt ein Lastwagen vor. Der Fahrer motzt in die Runde, ob mal bitte jemand anpacken könne, ganz so genau nimmt man es hier mit dem Streiken offenbar nicht, die Lieferung muss schließlich ins Lager. Einer der Jungs zieht einen Rollbehälter mit ordentlich Gerumpel über das Pflaster. Die vom Lärm genervten Nachbarn schütten manchmal Wasser aus dem Fenster, erzählt einer der Rider. „Fuck off, Gorillas“, steht auf einem Transparent, das aus einem Fenster im ersten Stock hängt.
Für Gorillas haben die Proteste schon jetzt Konsequenzen. Bei einer Umfrage, die das Marktforschungsinstitut Civey im Auftrag des Tagesspiegels durchführte, gaben im Juli 21 Prozent der Befragten an, dass sie Gorillas kennen. 62 Prozent von ihnen teilten mit, ihre Meinung über den Lieferdienst habe sich durch die Arbeitskämpfe verschlechtert. Nur sechs Prozent sagten, sie hätten ein positives Bild des Start-ups. Bei Gesprächen mit neuen Investoren Anfang August soll der Wert des Unternehmens nicht bei sechs, sondern nur noch bei 2,5 Milliarden Dollar angesetzt worden sein. Gerüchte kursierten im August, der amerikanische Lieferriese Doordash wolle es kaufen. Zu den „schlechtestmöglichen Bedingungen“, so zitierte das britische Tech-Magazin Sifted einen Insider. Am vergangenen Freitag berichteten nun Bloomberg und Telegraph, Doordash habe die Verhandlungen platzen lassen.

Karlıdağ hat sich ein Eis aufgemacht, einer der Jungs hat eine Ladung aus dem Warehouse geholt, ein anderer hat Kaffee gekocht. Wie Streikposten auf Schwarz-Weiß-Fotos vor Fabriken mit langen Schloten, denen die Gewerkschafter Stullen und dampfende Tassen bringen.
Vielleicht funktioniert es ja doch, dieses Arbeitskampf-Ding, es ist eine Rolle, an die sich die Studentin Karlıdağ noch gewöhnen muss. Aber ihre Freude daran, sich wehren zu können, ist ansteckend. Warum sie das alles mache? Karlıdağ strahlt. „Warum sollte ich es nicht machen?“

passiert am 24.08.2021