Brandbeschleuniger Corona – Der perfekte Sturm
Massenunruhen, politische Instabilität, Gewalt: Auf der ganzen Welt kommt es derzeit zu Ausschreitungen. Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf schwelende Konflikte. Schwellenländer sind besonders betroffen. Doch auch ein großes europäisches Land ist gefährdet.
Vor drei Wochen wurde in Haiti der Präsident von einem bewaffneten Kommando nachts in seiner Residenz erschossen. Am vergangenen Sonntag löste der tunesische Präsident Kaïs Saïed kurzerhand die Regierung auf. Es war ein drastischer Schritt, der ein Land in seiner demokratischen Entwicklung zurückwarf, das als letzter Überlebender des „arabischen Frühlings“ vor zehn Jahren galt.
In Peru gab die Wahlkommission vergangene Woche nach einer wochenlangen Hängepartie bekannt, dass der zuvor weitgehend unbekannte, marxistisch illuminierte Kandidat Pedro Castillo nun der neue Präsident ist. Peru, Haiti und Tunesien sind nur die jüngsten Beispiele einer ganzen Reihe von Ländern, in denen politische Instabilität und soziale Unruhen zunehmen. In den Wochen zuvor wurden beunruhigende Entwicklungen, Proteste und teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen unter anderem aus dem Iran, Kuba, Südafrika und Kolumbien gemeldet.
Die konkreten Auslöser sind jeweils unterschiedlich, doch eins ist allen gemeinsam: Der Aufruhr trifft Länder, in denen viele Menschen nach anderthalb Jahren Pandemie am Rande ihrer Kräfte sind. Die häufig schon vor Corona extrem schwierige wirtschaftliche und soziale Situation hat sich noch einmal verschärft, das Vertrauen in die bisherige politische Führung ist aufgebraucht.
Elise Labbott, Professorin an der School of International Service an der American University School in Washington DC hat die Lage kürzlich in einem Aufsatz für das Fachblatt „Foreign Policy“ mit einer „globalen Streichholzschachtel“ verglichen, die nur darauf warte, in Flammen aufzugehen. Soziale Spannungen, die bereits vor der Pandemie bestanden, spitzen sich weiter zu und führen vielerorts zu Massenprotesten. Gerade für ohnehin angeschlagene staatliche Gebilde braue sich ein „perfekter Sturm“ zusammen.
Konfliktlinien treten offen zutage
Die Corona-Pandemie sei eine Jahrhundertkrise, die nahezu alle Staaten in ihren Grundfesten erschüttert, sie belastete die Gesundheitssysteme extrem und schädigte insbesondere schwächelnde Volkswirtschaften nachhaltig – doch auch hoch entwickelte Märkte und Staaten sind vor Erschütterungen keineswegs sicher. Gerade das Beispiel der USA habe das im vergangenen Jahr gezeigt.
Reichere Staaten sind zwar durch exorbitant kostenintensive Maßnahmen in der Lage, die unmittelbare Schockwirkung abzufedern. Eine solche Politik der Schockmilderung durch eine Mischung von Hygienevorschriften, Lockdowns und Wirtschaftshilfen, so Abbott, hat vermutlich die Zahl der Todesfälle und wirtschaftlichen Pleiten kurzfristig gemindert, möglicherweise wurde aber gerade dadurch auch die Anfälligkeit von Gesellschaften für Aufruhr und Protest erhöht, da sich soziale Ungleichheit, Armut und wirtschaftliches Leid mittelfristig verschärften. Nun, da viele Staaten langsam wieder auf Normalbetrieb hochfahren, treten die alten Konfliktlinien offen zutage.
Der Mangel an Impfstoffen in Schwellenländern und ihre ungerechte Verteilung potenziert dieses Spannungspotenzial. Insbesondere Afrika liegt in dieser Hinsicht weit zurück, dadurch werden die ohnehin angeschlagenen Ökonomien dort weitaus mehr Mühe haben, wieder Tritt zu fassen, die Armut wird zunehmen, verschärfte soziale Konflikte und neue Fluchtbewegungen sind absehbar. Auch in weiten Teilen Lateinamerikas und Asiens ist die Versorgung mit effizienten Impfstoffen dürftig und die soziale Lage mehr als gespannt.
Die Vereinten Nationen schätzen, dass zwischen 750 und 811 Millionen Menschen, also rund zehn Prozent der Weltbevölkerung, im vergangenen Jahr an Nahrungsmangel litten. In Ländern wie Äthiopien, dem Sudan oder Madagaskar verschärfen Dürren die katastrophale Lage.
Verisk Maplecroft, eine Beratungsfirma, die auf die Analyse von Sicherheitsrisiken spezialisiert ist und jedes Jahr einen „Global Risk Report“ vorlegt, sah bereits im vergangenen Jahr in 37 Staaten ein erhöhtes Risiko für soziale Unruhen in Folge der Pandemie. Inzwischen habe sich die Zahl auf 40 erhöht, sagt Miha Hribernik, der federführende Analyst für den Bericht im Gespräch mit WELT.
„Während die wirtschaftlichen Schäden von Covid-19 zunehmen, ist davon auszugehen, dass Proteste in Schwellenländern und -märkten anschwellen. Millionen von arbeitslosen, unterbezahlten und mangelernährten Bürgern stellen ein Risiko für die politische Stabilität dar, dem in den vorangegangenen Dekaden wenig gleichkommt“, heißt es in dem im Juli 2020 veröffentlichten Bericht von Verisk Maplecroft.
Die vergangenen zwölf Monate haben diese Einschätzung bestätigt. Die größte Krisenanfälligkeit erkannten die Analysten südlich der Sahara und in Lateinamerika. Nigeria, die Demokratische Republik Kongo, Äthiopien, Venezuela und Peru stehen auf der Liste gefährdeter Länder ganz oben. Aber auch die Türkei, Südafrika, Indien und Pakistan stuft der Bericht als anfällig ein.
Als einen der Hauptfaktoren, der Protestbewegungen begünstige, nennt die Studie den massiven Vertrauensverlust in die politische Führung. Gerade in den fragilen Staaten hätten die Menschen Versorgungsengpässe, eine schwache Gesundheitsfürsorge, Arbeitsplatz- und Kaufkraftverluste hinnehmen müssen. Lieferketten wurden unterbrochen, Rohstoffpreise explodierten. Zugleich wurde Entwicklungshilfe reduziert.
Erstmals seit 22 Jahren stieg die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben – das heißt mit weniger als 1,90 Dollar am Tag – wieder an. Die Organisation Oxfam schätzt, dass es bis zu einem Jahrzehnt dauern könnte, bis sich die ärmsten Länder von der Pandemie erholt haben werden.
Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte im Juli fest, dass die Zahl der Proteste, die durch die ökonomischen Folgen der Pandemie motiviert seien, stark zunehme. Und dies vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die Zahl sozialer Proteste – Streiks, Aufstände, Anti-Regierungs-Proteste – in der vergangenen Dekade weltweit bereits um 244 Prozent angestiegen ist, wie der Global Peace Index ermittelt hat.
Die Ökonomin Rui Xu, die für den IWF die Auswirkungen von Pandemien untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass vor allem die Kombination aus wahrgenommener Ungleichheit und Einkommensverlusten soziale Aufstände befeuere. Xu diagnostiziert dabei eine charakteristische Zeitverzögerung, die für die nähere Zukunft nichts Gutes verheißt: Meist komme es zwei Jahre nach einer Gesundheitskrise zu sozialen Protesten. Dann wiederum hätten die Unruhen selbst negative wirtschaftliche Folgen für das betroffene Land, die jahrelang nachhallten. Aus diesem „Teufelskreis“ sei es schwer, wieder herauszukommen.
Fragile Staaten besonders gefährdet
Xus Einschätzung deckt sich mit den Erkenntnissen des Institute for Economics and Peace, eines australischen Thinktanks, der zu dem Schluss kommt, dass Pandemie besonders schädlich war für jene, die ohnehin in fragilen Staaten leben „ohne Unterstützung werden diese fragilen Staaten Mühe haben, sich zu erholen, und so werden die Voraussetzungen für künftige Unruhen geschaffen“, befürchtet das Institute for Economics and Peace.
Miha Hribernik von Verisk Maplecroft sieht das ähnlich: „Insgesamt betrachtet gibt es im Moment mehr Proteste als an jedem anderen Punkt der Geschichte. Und das ist nicht überraschend. Die Leute waren schon zuvor wütend über ökonomische Ungleichheit oder Korruption, hatten bereits Vertrauen in die politischen Eliten verloren. Jetzt kommen noch Dinge hinzu wie Beschaffungsskandale bei Masken oder Impfstoffen, wiederholte Lockdowns, Jobverluste, hohe Sterberaten. So kommt eins zum anderen“, erläutert Hribernik im Gespräch mit WELT.
Mit einer gewissen Beunruhigung beobachtet Hribernik, dass sich die Instabilität zunehmend auch in höher entwickelten Ländern ausbreitet. Und dieser Trend ist neu. Die USA seien dafür ein Beispiel. Da sei man zwar vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung noch weit entfernt, doch das Risiko „heftiger disruptiver Proteste“ sei eindeutig gestiegen. Im Risiko-Ranking von Verisk Maplecroft belegen die USA deshalb immerhin Platz 46.
Und auch ein europäisches Land macht den Analysten zunehmend Sorge: Angesichts der Wirtschaftsdaten und der politischen Lage seien mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Italien in den kommenden sechs Monaten bis zwei Jahren Protestbewegungen zu erwarten.
„Wenn wir uns anschauen, wohin die Reise in Italien geht, dann gehen wir bei unseren Daten davon aus, dass Italien Anfang nächsten Jahres von der Kategorie „mittleres Risiko“ in die Kategorie „hohes Risiko“ für soziale Unruhe gestuft wird. Deshalb liegt es auf Platz neun auf unserer Liste von Ländern mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für eine Zunahme sozialer Unruhen im Jahr 2022. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in diese Richtung geht, ist ziemlich hoch“, befürchtet Hribernik.
Von Sascha Lehnartz, Chefkorrespondent