Pape Diop: Der Tote im Landwehrkanal

Seit seine schon halb verweste Leiche von Spaziergängern in einem Berliner Gewässer gefunden wurde, fragen sich Freundinnen und Familie: Warum starb Pape Diop?

Der Tote im Landwehrkanal

Der Bilderrahmen hat einen leichten Sprung, er ist mit einem rosa Band am Geländer über dem Kanal befestigt. Auf dem Foto steht ein Mann in einem U-Bahn-Tunnel, er trägt ein schwarzes Barett, schwarze Converse-Chucks, Jeansjacke. Er streckt die Arme weit aus, als gehöre alles ihm: das Neonlicht, die Graffiti und die Stadt dahinter. Ein König der Welt. Über das Foto hat jemand geschrieben: In Loving Memory Of Pape Samba Diop. Und darunter: We miss you and love you.

Vor sechs Monaten hatten Fußgänger die Leiche im Wasser entdeckt, an der Stelle im Landwehrkanal in Berlin-Kreuzberg, wo das Bild nun hängt. Es war kurz vor Weihnachten, der Körper war aufgebläht und begann zu verwesen, er muss bereits Wochen dort getrieben haben. Der Tote trug mehrere Schichten Kleidung, eine goldfarbene Kette um den Hals und zwei Ringe am Ringfinger der linken Hand. Er hatte keine Papiere bei sich, kein Geld und kein Handy, so vermerkten es die Polizisten in ihrem Bericht. Wegen der Verwesung war es schwierig, Fingerabdrücke zu nehmen. Der Tote hieß Pape Diop, 47, und war als mauretanischer Flüchtling registriert.

Wenige Wochen später tauchten Zettel auf, getackert an die Bäume in den angrenzenden Parks. Darauf stand: „Wir wollen wissen, warum unser Freund Pape tot ist!!!“ Jemand fotografierte den Zettel ab und stellte das Bild ins Netz. In sozialen Netzwerken wurde es tausendfach geteilt, manche Nutzer schrieben: Die Polizei ist schuld am Tod des Mannes. Andere schrieben: Rassismus! Sie bekamen dafür etliche Likes. Der Mann war schwarz.

Seine Geschichte führt von Westafrika aus über Italien nach Berlin, Tausende Kilometer um den Erdball. Sie erzählt etwas über eine Welt, in der die Herkunft bestimmt, was aus einem Menschen wi

Die Aktivistin

Sie spricht laut in ihr Handy. „Bist du draußen? Staatsgewalt, das Übliche.“ Sie zündet sich eine Zigarette an. „Ein Freund von mir. Der ist von den Bullen verprügelt worden. Das passiert ständig.“ Die Frau nennt sich Carola, sie hat graue Haare, zum Zopf gebunden. Sie war es, die im Winter die Zettel an die Bäume getackert hat. Sie sagt: „Ich war so wütend.“ Sie sitzt auf einer Bank im Görlitzer Park. Der Görli, ein Grünstreifen mitten in Kreuzberg, bekannt weit über Berlin hinaus: als Drogenhölle und Symbol gescheiterter Integration. An den Eingängen stehen junge schwarze Männer und zischen Leuten hinterher: „Do you want a smoke?“ Wenn die Polizei kommt, sprinten sie los und verstecken die Drogen. Werden sie festgenommen, kommen sie rasch wieder frei. Für Carola sind nicht die Dealer das Problem, sondern die Polizei. Sie glaubt: Die Polizei könnte eine Mitschuld am Tod von Pape haben.

Vom Görli aus führt eine Brücke über den Landwehrkanal. Die Leiche wurde in einem Seitenarm gefunden, dem Flutgraben. Ein flaches Gewässer, das sanft zur Spree treibt. An manchen Tagen kann man bis auf den Grund schauen. Carola sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in Wasser ertrinken soll, das nicht mal einen Meter tief ist.“

Auf der anderen Seite des Kanals steuert Carola eine Gruppe Männer an, sie liegen auf einer Wiese im Schatten. Einige stammen aus dem Senegal, andere aus Gambia, sie sind so etwas wie ein Freundeskreis, verbunden durch die gemeinsame Sprache, Wolof. Auch Pape hatte zu ihnen gehört. Jeder hier kennt ihn, doch keiner kann wirklich etwas über ihn erzählen. Wer er war? Einer ruft: „Pape hat immer Wasser geholt, wenn wir Durst hatten!“ Ein guter Mensch, wollen sie sagen. Sie treffen sich täglich, spielen Fußball, grillen. Das sei ein Stück Heimat, sagen sie. Manche von ihnen haben Papiere, Familie, einen festen Job. Andere sind illegal hier und schlagen sich durch, indem sie Drogen an Touristen verkaufen.

Früher hatte sich die Gruppe im Görli getroffen, doch vor einem Jahr wurde eine Polizeieinheit für den Park abgestellt. Seitdem sind die Kontrollen häufiger geworden und brutaler, wie die Männer auf der Wiese erzählen. Deshalb seien sie auf die andere Seite des Kanals abgewandert, in den Schlesischen Busch. Bamba, er ist so was wie der Chef der Gruppe, ein großer Kerl mit tiefer Stimme, sagt: „Es gibt vernünftige Polizisten, und es gibt aggressive. Die schlagen und provozieren, und wenn wir uns wehren, dann holen sie Verstärkung. Ich weiß nicht, was in der Nacht passiert ist, aber ich weiß, dass man diesen Polizisten nicht alleine begegnen sollte.“

Möglicherweise ist er gestolpert

Bamba war wohl der Letzte, der Pape noch lebend gesehen hat. Das war einen Monat bevor er aus dem Wasser gezogen wurde, am 20. November. Sie hatten den Nachmittag zusammen auf einer Bank gesessen und getrunken. Pape sei gut drauf gewesen an jenem Abend. Als sie im Park Polizisten entdeckt hätten, habe sich die Gruppe schnell verstreut, um nicht kontrolliert zu werden. Pape habe er danach nie wiedergesehen.

Etwa 260 Einsatzkräfte sind im Görlitzer Park und im angrenzenden Wrangelkiez im Einsatz, 319 Festnahmen gab es im vergangenen Jahr wegen Drogenhandels. Die Polizei schreibt auf Nachfrage, es habe in jener Nacht keinen Einsatz im Schlesischen Busch gegeben. Ob eine Streife vorbeigekommen ist, lasse sich nicht nachvollziehen. Möglicherweise hat Pape die Polizei gesehen, wollte sich am Kanal verstecken. Möglicherweise ist er gestolpert, unglücklich gestürzt, ins Wasser gefallen, ertrunken. Möglich ist das, aber wahrscheinlich?

Bei einer ersten Obduktion konnte die Polizei keine Verletzungen feststellen. Noch im Januar entschied die Mordkommission, keine weiteren Ermittlungen wegen des Toten einzuleiten.

Der Bruder

Moustapha Diop sieht seinem verstorbenen Bruder sehr ähnlich. Ein eleganter Mann, der in einem dünnen grauen Mantel durch die Spaziergängergruppen in Kreuzberg pflügt. Moustapha hatte vom Tod seines Bruders auf Facebook erfahren. Erst weinte er vor Verzweiflung, erzählt er, dann fuhr er zur Polizei, er wollte erreichen, dass der Tod seines Bruders aufgeklärt wird. Doch die Beamten fragten, ob Pape über Selbstmord gesprochen habe. Er habe geantwortet: „Pape Diop war ein glücklicher Mann.“

Pape war unter einer falschen Identität in Deutschland registriert, als mauretanischer Flüchtling, der Asyl in Genf beantragt hatte. Dabei stammte er aus dem Senegal, aus Dakar. Pape war das älteste von vier Geschwistern. Als ihm seine Mutter im Jahr 1994 einen Job auf einer Baustelle in Turin und ein Visum beschaffte, war er schon verheiratet, hatte eine Tochter – und ging trotzdem nach Italien. Anfang der Neunzigerjahre reisten Zehntausende Senegalesen dorthin, das Land brauchte billige Arbeitskräfte. Pape verdiente Geld und schickte es nach Hause. Es gibt ein Bild von damals: Pape sitzt mit Freunden auf einer Treppe. Sie tragen Anzüge und goldene Uhren, lachen in die Kamera, keine unsichtbaren Wanderarbeiter mehr, sondern junge Männer, denen die Welt offensteht. Hätte man wenigstens meinen können.

Ende der Neunzigerjahre verschärfte Italien seine Migrationspolitik, Menschen wie Pape waren nicht mehr willkommen. Im Jahr 1998 kehrte er zurück nach Dakar, doch kurz darauf ging es weiter nach Genf. Er begann als Koch zu arbeiten, so erzählt es Moustapha. Pape holte seine Frau und die Tochter nach, in der Schweiz bekamen sie ein zweites Kind.

Über Skype meldet sich eine Frau namens Thérèse. Sie stammt aus Kamerun, lebt seit vielen Jahren in Genf. Sie sagt, sie habe Pape beim Feiern kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits eine zweite Identität angeschafft, er war jetzt ein Asylbewerber aus Mauretanien. Vermutlich hatte er seinen Aufenthaltstitel irgendwann verloren, er arbeitete nicht mehr als Koch, sondern jobbte auf Baustellen und dealte mit Gras. Kurz nachdem sie sich kennenlernten, trennte Pape sich von seiner Frau und zog bei Thérèse ein. Zwei Jahre später bekam das Paar ein Kind. Thérèse sagt, Pape sei ein charismatischer Typ gewesen. Aber es sei ihm schwergefallen, einen festen Job zu finden, es gab Probleme mit der Polizei, und schließlich sei sein Asylgesuch abgelehnt worden.

Wenn Pape zu viel trank, kippte die Stimmung

Im Mai 2016 wanderte Papes Bruder Moustapha aus dem Senegal nach Deutschland aus. Er hatte eine Frau aus Berlin kennengelernt und geheiratet. Er hatte einen Aufenthaltstitel erhalten und durfte sich legal eine Arbeit suchen. Dann tauchte plötzlich Pape auf. Wenn Moustapha vom Wiedersehen spricht, steigen ihm die Tränen in die Augen. Er sagt: „Wir haben uns auf dem Alexanderplatz getroffen. Wir haben uns umarmt, und wir haben gesungen. Vor zwanzig Jahren hatten wir uns zuletzt gesehen.“

Niemand weiß, warum Pape nach Berlin gekommen war. Thérèse sagt, sie hätten heiraten wollen, dann sei er einfach verschwunden. Pape war jedenfalls nicht mehr der unbeschwerte junge Mann von früher, die Zeiten hatten sich geändert. In Genf wurde er von der Polizei gesucht, zur Beerdigung seiner Mutter konnte er nicht mit seinem Bruder in den Senegal fliegen. Es gab keinen Ort mehr, an dem er in Ruhe bleiben konnte.

Die Freundin

Es war ein lauer Sommerabend im vergangenen Jahr, als Pape und Léa sich ineinander verliebten. Mehrere Tausend Menschen hatten sich in der Hasenheide in Neukölln zu einer großen Party versammelt, Léa war mit belgischen Freunden unterwegs. Irgendwann in der Nacht freundeten sie sich mit einer Gruppe Afrikaner an. Ein hübscher Kerl mit breiten Schultern sagte zu ihr: „Ich mag dich. Wenn du mich kennenlernen willst, melde dich bei mir.“ Er gab ihr seine Nummer. Das war Pape.

Heute sagt sie: „Er hat so eine positive Energie gehabt.“ Sie sitzt auf einer Bank im Görli, eine junge Frau mit braunen Haaren und blassem Gesicht. Sie dreht sich eine Zigarette, ihre Hand zittert ein wenig. Auf ihrem Handy sind Bilder von Pape gespeichert. Pape am Basketballplatz, Pape mit seinem Rennrad, Papes Gesicht in Nahaufnahme. Seit jener Party im Sommer waren sie öfter zu zweit durch die Stadt gezogen: die Studentin aus Belgien und der Dealer aus dem Senegal. Sie war 25, er 47. Sie fuhren Fahrrad, gingen shoppen, lagen in der Sonne, er bekochte sie mit Essen aus dem Senegal, und sie fotografierte ihn. Das waren die schönen Seiten. Doch wenn Pape zu viel trank, kippte die Stimmung. Er wurde aufbrausend und dickköpfig, dann endeten die gemeinsamen Tage in Streit und Tränen, und Pape verschwand für einige Tage aus Léas Leben, bis sie sich wieder versöhnten. Léa sagt: „Ich glaube, ich habe ihn geliebt. Sonst hätte ich das nicht ausgehalten.“

In dieser Zeit hatte Pape kein Zimmer mehr in Berlin. Wenn er nicht bei Léa schlief, kam er bei Freunden unter, manchmal landete er auch im Park. Alles, was er besaß, trug er in einem Rucksack mit sich: Kleidung, Geld, Hygieneprodukte. Léa sagt, Pape habe großen Wert auf sein Äußeres gelegt. Außerdem trug er eine kleine grüne Bauchtasche. Darin versteckte er die Drogen.

Léa sagt, Pape sei immer an denselben Ort gefahren, um die Drogen zu holen, eine Seitenstraße in Neukölln. Meist habe er kleine Mengen an Ecstasy oder Koks erhalten, Partydrogen, abgepackt in Plastiktütchen. Über einen Telegram-Chat meldeten sich Käufer bei ihm, und er fuhr die Ware mit seinem Rennrad aus. Geld und Drogen trug er immer bei sich. Wenn ihn die Polizei erwischte, war beides weg, und Pape musste wieder von vorn anfangen. Léa sagt: „Ich habe ihn mal gefragt: Möchtest du nicht einen richtigen Job? Aber er hat das nur weggelacht. Was für einen Job hätte er auch machen sollen? Er hatte ja keine gültigen Papiere.“

Wenige Tage bevor Pape endgültig verschwand, war er wieder kurz eingebuchtet worden. Léa gab ihm etwas Geld, er mietete sich ein Zimmer in einem Hostel in Neukölln. Am Abend vor dem 20. November kam Léa vorbei, so erzählt sie es. Sie hatten sich zuvor gestritten, es war ein Versöhnungstreffen. Sie tranken Wein und redeten die ganze Nacht. Léa sagt: „Wir waren sehr glücklich am Morgen.“ Als sie ihn um acht Uhr abends anrief, antwortete er nicht mehr, nur ein Rauschen sei zu hören gewesen. Danach war das Handy ausgestellt.

Moustapha sitzt auf der Bank, nicht weit weg von der Stelle, an der die Leiche seines Bruders gefunden wurde. Gerade hat er eine Nachricht von der Staatsanwaltschaft erhalten, sie stellt die Ermittlungen ein. Dazu hat sie ein toxikologisches Gutachten geschickt. Darin steht, dass Pape in jener Nacht sehr betrunken gewesen ist. Bis heute ist Léa die einzige Zeugin, die von der Polizei vernommen wurde. Die Staatsanwaltschaft hat nicht nach weiteren Zeugen gesucht, keinen von Papes Freunden befragt, die Umgebung nicht nach dem Handy oder den Drogen abgesucht. Moustapha sagt: „Ich verstehe dieses Land nicht. Hätte man bei einem Deutschen auch so wenig unternommen? Oder sind wir einfach etwas weniger wert?“

Sozialarbeiter berichten, dass auch die Dealer von der Corona-Pandemie hart getroffen wurden. Die Clubs waren geschlossen, die Touristen blieben weg. Der Konkurrenzkampf sei härter geworden, es komme nun oft zu Schlägereien. Auch Pape hatte kurz vor seinem Tod einen Konflikt. Ein anderer Dealer hatte die Bauchtasche mit seinen Drogen aus dem Versteck gestohlen, erst nach heftigem Streit hatte Pape sie wiederbekommen.

Als die Leiche von der Polizei freigegeben wurde, sammelten Papes Brüder Geld in der senegalesischen Community und ließen den Körper nach Dakar überführen. Obwohl er ein halbes Leben fort gewesen war, kamen Hunderte Menschen zur Trauerfeier, es gibt Videos davon. Man sieht darin Männer in weißen Gewändern, die sich vor einer Moschee wiegen, dicht an dicht. Sie singen und rufen den Namen Gottes. Sie begrüßen den Zurückgekehrten.

passiert am 08.07.2021