Berliner Volksbegehren: Enteignungen können Teil der Lösung sein

Michael Müllers Strategie ist gescheitert. Noch Ende Mai hatte Berlins Regierender Bürgermeister stolz verkündet, den Immobilienkonzernen Vonovia und Deutsche Wohnen Zugeständnisse abgerungen zu haben. Die Unternehmen wollen dem Land Berlin nach der Fusion 20.000 ihrer rund 150.000 Wohnungen in der Hauptstadt zum Kauf anbieten, die Mieten sollten fünf Jahre lang nicht mehr steigen. Die zentrale Botschaft dieser Aktion war klar, sie musste gar nicht ausgesprochen werden: Seht her, Enteignungen sind nicht notwendig, wir regeln das auch so.

Sei diesem Donnerstag ist klar: Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Spätestens nach dem Scheitern des Mietendeckels trauen viele Menschen in Berlin Müller offensichtlich nicht mehr zu, die Fehlentwicklungen auf dem Wohnungsmarkt in den Griff zu bekommen. Deutlich mehr als die erforderlichen rund 172.000 Berlinerinnen und Berliner haben das Volksbegehren zur Enteignung großer Immobilienkonzerne unterschrieben. Am 26. September wird die Stadt nun darüber abstimmen, ob mehr als 240.000 Wohnungen enteignet werden sollen.

Schon jetzt ist das Volksbegehren damit ein Erfolg. Angesichts der breiten Unterstützung für die Initiative kann die Politik das Thema Wohnungsnot schwerlich ignorieren und ist gezwungen, neue und bessere Lösungen zu präsentieren. Der Berliner Volksentscheid kann ein Schritt auf dem Weg zu einer Lösung sein. Natürlich ist völlig offen, ob sich die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner im September für Enteignungen ausspricht. Aber sie alle senden das Signal: Es muss endlich etwas passieren.

Gewaltige Zahl an Unterschriften

Insgesamt wurden für das Volksbegehren 183.711 gültige Stimmen registriert. Nach den Regeln des Abstimmungsgesetzes mussten die Bezirksämter in Berlin aber nur so viele Unterschriften prüfen, bis die notwendige Anzahl von sieben Prozent der Wahlberechtigten erreicht war. Eingereicht hatte die Enteignungsinitiative insgesamt 359.063 Unterschriften – eine gewaltige Zahl für ein Volksbegehren unter Pandemiebedingungen. Das Unterschriftensammeln in Kneipen oder Märkten war während der Corona-Beschränkungen kaum möglich, die Aktivistinnen mussten auf Abstand von ihren Ideen überzeugen. Das Ergebnis lässt erahnen, was viele im Rest der Republik wohl kaum für möglich halten: Enteignungen sind in Berlin vielleicht sogar mehrheitsfähig.

Dass die Berliner zu solch radikalen Instrumenten greifen, ist eine direkte Folge der Wohnungspolitik des Landes. Sie hat es nicht geschafft, nachhaltige Lösungen gegen die Wohnungsnot zu präsentieren. Der wohl größte politische Fehler passierte vor knapp 20 Jahren, als eine SPD-geführte Koalition mit – ausgerechnet – der Linken mehr als 60.000 Wohnungen aus dem kommunalen Bestand verkaufte. Privatisierung, um Haushaltslöcher zu stopfen, das war die Logik. Eine fatale Entscheidung im Nachhinein.

Sie wollen Kontrolle zurück

In den vergangenen Jahren haben die SPD, Linken und Grünen versucht gegenzusteuern, das muss man ihnen zugutehalten. Der Mietendeckel war ein mutiger Versuch, die Kontrolle über die Mietpreisentwicklung zurückzugewinnen. Gescheitert ist er dennoch. Die schwere Niederlage des Senats vor dem Bundesverfassungsgericht dürfte der Enteignungsinitiative weitere Unterstützerinnen und Unterstützer beschert haben.

Müllers geplanter Deal mit Vonovia und Deutsche Wohnen hat die Enteignungsbefürworter womöglich zusätzlich bestärkt – zu naiv wirkt sein Vorgehen. Die Konzerne werden dem Senat kaum Wohnungen zum Freundschaftspreis in Bestlage anbieten. Vielmehr kann es passieren, dass Vonovia und Deutsche Wohnen die Gelegenheit nutzen, um weniger attraktive Bestände auszusortieren, und der Senat trotzdem einen hohen Preis dafür zahlen soll. Die Berliner Landesregierung ist gut beraten, ein solches Angebot abzulehnen und das Geld lieber in den Bau neuer Wohnungen zu investieren. Denn nur durch konsequenten Neubau wird sich der Wohnungsmarkt in Berlin entspannen.

Doch in der Hauptstadt geht es längst um mehr. Denn natürlich haben auch die Berliner unterschrieben, die schon jetzt eine Wohnung haben und nicht unbedingt eine neue Wohnung brauchen. Diese Mieterinnen und Mieter wollen sich darauf verlassen können, dass sie sich auch zukünftig ihre Wohnung oder ihr Häuschen leisten können. Dass sie in ihren Kiezen wohnen bleiben können. Sie wollen, dass ihre Wohnungen keine Spekulationsobjekte sind und dass ihre Vermieter sich verlässlich um die Instandhaltung der Häuser kümmern.

Die Stadt wieder befrieden

Genau das verspricht die Enteignungsinitiative. Die notwendigen Entschädigungssummen für die Konzerne sollen aus den Mieteneinnahmen finanziert werden. Natürlich ist völlig offen, ob sich das Versprechen auch rechtlich einlösen lässt oder ob die Vergesellschaftung nicht am Ende auch vor dem Bundesverfassungsgericht landet, wie schon der Mietendeckel. Auch die Höhe der Entschädigungen lässt sich noch nicht seriös beziffern. Und klar, zusätzliche Wohnungen würden durch die Enteignung nicht entstehen.

Die Vergesellschaftung kann daher nur eine von vielen Lösungen sein, um den überhitzten Wohnungsmarkt in Berlin in den Griff zu bekommen. Ohne kommunalen Neubau, bessere Investitionsanreize für private Unternehmen und eine gleichzeitige Regulierung der Mietpreisentwicklung – möglicherweise über einen bundesweiten Mietenstopp – ist die Wende nicht zu schaffen. Alle Lösungen müssen nun auf den Tisch. Das Volksbegehren ist das Signal, dass die Geduld der Berliner zu Ende geht.

https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-06/berliner-volksbegehren-deutsche-wohnen-und-co-enteignen-abstimmung-wohnungsnot

passiert am 01.07.21