Phoenicurus aus der Asche

In ihrer Funktion als Infrastruktur autonomer Organisierung und Kämpfe ist die Rigaer94 zugleich Zuhause zahlreicher Bewohner*innen. Auch Tiere haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Alle hier ansässigen Lebewesen eint die direkte Betroffenheit durch äußere Bedrohungen. Verstärkte Türen, Barrikaden und der Wille zum Widerstand schützen sie vor Feuer aus Faschistenhand, vor zerstörerischen Bauarbeiten und lebensfeindlichen Sanierungen. Bestandteil dieser Schicksalsgemeinschaft ist auch eine Vogelfamilie, die auf dem Rahmen einer ehemaligen Tür im Durchgang von der Straße zum Hof ihr Nest gebaut hat. Derzeit kann man im Hof ein reges Treiben des ausgewachsenen Pärchens beobachten, wie sie von Beutezügen zurückkehren, sich meist kurz auf dem Klingendraht des Zaunes zur Dreiundneunzig niederlassen und dann, ohne Angst vor anderen Hausbewohner*innen, in den Durchgang fliegen, um sich von innen auf die Rahmenkonstruktion der ehemaligen Tür zu setzten. Dort haben sie bereits vor längerer Zeit ein Nest gebaut, welches zur Kinderstube von vier kleinen Vögelchen wurde. Die vier hungrigen, weiß umrandeten Schnäbel setzen unvermittelt zu durchdringendem Lärm an, recken die Hälse ihren Ernährern entgegen und bekommen dann eins nach dem andern ein Knäuel toter Insekten in den Rachen geschoben. Wenig später ist die Szene bereits vorbei und der jeweilige Elternvogel innerhalb Sekunden den fünf Stockwerke hohen Hof emporgestiegen, über die Dachkante entschwunden und irgendwo in der Umgebung wieder auf Jagd.

Bei unserer Vogelfamilie handelt es sich um Vertreter der Spezies Phoenicurus ochruros. Im deutschen Sprachgebrauch werden sie meist Hausrotschwänzchen genannt, im englischen Black Redstart. Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist der rote Schwanz. Das Männchen fällt zudem durch die intensive Rußfärbung seiner Oberkörperpartie und des Kopfes auf, welche dem Schwarz des Rauches der brennenden Reifen vom sechzehnten Juni in nichts nachsteht. In Verbindung mit Ruß, Kohle und Feuer wurde der Vogel wegen seines Aussehens im Volxglauben andernorts schon früher gebracht. Im Alpenraum wird er daher Rußvogel oder Brantele genannt. Aber auch Bezeichnungen wie Prand- oder Brandvogel und Brandreiterl sind geläufig.

Allgemein wird ihm eine besondere Nähe zum Menschen unterstellt. Das Zusammenleben mit den anderen Bewohner*innen der Rigaer94 stellt diese Nähe unter Beweis. Die Wertschätzung und Unterstützung, die sich hier entgegengebracht werden gehen tatsächlich schon seit einiger Zeit über ein bloßes nebeneinander her leben hinaus. Die Anwesenheit des Brandvogels wurde 2003 erstmals videografisch dokumentiert, als ein SEK-Trupp die Rigaer94 stürmte, um dem damaligen Eigentümer und seinen Männern den Boden zu bereiten. Im Hintergrund der urzeitlichen Digitalaufnahmen aus dem Haus hört man den charakteristischen Reviergesang mit seinem kratzend-schleifenden Mittelteil. Von Bewohner*innen des Hauses wird seine Anwesenheit, die jährlich nur von einer kurzen Winterpause unterbrochen wird, als Symbol für Glück und Hausfrieden gedeutet. Mit Sorge wurde daher auch dem Angriffsversuch unter dem immer dünneren Deckmantel des Brandschutzes entgegen geblickt. Die Befürchtung, dass der Pseudo-Hauseigentümer sofort mit Räumungen und Zerstörungsarbeiten anfangen würde, sobald die Polizei den Zugang freigekämpft hätte, bezog die Sorge mit ein, dass der alte Türrahmen als eine der ersten Anlagen beseitigt werden könnte – und mit ihm der ganze Nachwuchs des Brandvogelpaares. Selbst die bloße Anwesenheit der feindlichen Truppen über mehrere Wochen im Durchgang zum Hof hätte wohl das Aus für die vier Kleinen bedeutet. Der Fall des Hauses in die Hände des neuen Besitzers als ausübendes Organ der staatlichen Ideen von Sicherheit und Architektur hätte auch langfristig das Ende für den Brandvogel in der Rigaer Straße 94 bedeutet. Das ein oder andere fehlende Fenster im länger nicht sanierten Treppenhaus und der offene Charakter im Hausinneren allgemein haben es ihm überhaupt erst ermöglicht, die Gemeinflächen als Territorium für seine Reproduktion zu erschließen. Bedeutungsschwanger war daher der Umstand, dass die beiden Hausrotschwänzchen dieses Jahr den Türrahmen direkt im Eingangsbereich für ihren Nistplatz besetzt hatten.

Denn schon lange vor uns erzählt der alpenländische Volxmund davon, dass der Brandvogel im Haus ein Glücksbringer ist. Erstaunlicherweise wird darüber hinaus mancher Orts erzählt, dass der Vogel ein Haus vor Feuer schützt. Zwar soll es auch Gegenden in den Bergen geben, die genau Gegenteiliges besagen, doch legt die beinahe zwanzigjährige dokumentierte Geschichte seiner Anwesenheit in der 94 nahe, dass er im hiesigen Fall klar auf Seiten des Hauses und seiner Mitbewohner*innen steht. Die Rigaer94 verzeichnet in ihrer einunddreißigjährigen Geschichte keinen einzigen gravierenden Feuerunfall.

Düster sah es seit einigen Monaten dennoch trotz des anhaltenden Haussegens für all diejenigen aus, die dieses Haus mit Leben erfüllen. Das künstlich erschaffene Argument der Brandgefahr in der Rigaer94 wurde zum Stützpfeiler der Strategie des Staates, um den rebellischen Strukturen einen schweren Schlag zu versetzten, das Haus nach mehr Angriffspunkten zu durchleuchten, die Gemeinflächen zu besetzten und mit Argumenten der Feuergefahr ganze Gebäudeteile zu evakuieren. Schon im März wurde die Hausgeschichte und die damit verbundene Bewegungsgeschichte öffentlich für beendet erklärt und auch ganz realistisch betrachtet gab es für die Rigaer keine großen Hoffnungen. Nur ein taktischer Winkelzug schob das Unheil für ein paar weitere Monate hinaus. Am 17. Juni schon sah man sich wieder dem selben Schicksal gegenüber und erneut stand man mit dem Rücken zur Wand.

Sich nicht auf das Glück verlassend musste Feuer mit Feuer bekämpft werden und nicht nur Firmen- und Luxusautos verflüchtigten sich in den letzten Tagen vor der Stunde X in dichten schwarzen Rauchwolken in den sommerheißen Himmel. Auch den Parkplatz des Brandschutzprüfers des sogenannten Eigentümers fraß eine Feuerbrunst auf und zum Tag der Errichtung der Roten Zone um die 94 brannte der Asphalt, schwärzten sich die Augenlider in den Schlitzen der Masken der Kämpfenden vom Ruß, der in der Luft lag. Diese andere Seite des Brandschutzes, die Verteidigung der Souveränität und die Demonstration der Wehrhaftigkeit gegen die eigentlichen Brandstifter, zeigt wie ironisch manchmal Geschichte ist.

Als dennoch am Vormittag des siebzehnten Juni die beinahe zweitausend Schergen von Staat und Kapital zum Angriff bliesen, war die Verteidigung des Hauses zwar beherzt doch von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Die Stunde der Rigaer94 hatte geschlagen, der tatsächliche Brandschutz des Hauses, dessen verstärkte Türen, Barrikaden und der Wille der Bewohner*innen zur Aufrechterhaltung der Verteidigung brachen unter Motorsägen, Rammböcken, Vorschlaghämmern und Pfefferspray. Jetzt würden der Eigentümer und seine Männer das Haus erobern. Jetzt würden die alten Bewohner*innen in Fesseln aus dem Haus geschleppt werden und das Brandvogelpärchen ihren Nachwuchs aufgeben müssen. Neue Gestalten würden gleich damit beginnen, dem alten Gemäuer das Leben und die Geschichte auszuhauchen.

Doch das Schicksal will es anders. Die bereits vergossenen Tränen der Freude über den gemeinsam geschlagenen und letztendlich verlorenen Kampf in der dunkelsten und größten Stunde des Hauses sind dem Anschein nach nicht dazu bestimmt, als Erinnerung das Ende einer langen Geschichte einzuleiten. Das vermeintlich letzte Stündlein wird zur Stunde Null. Die würdevollen Mienen gehen über in stahlendes Lachen, als die Nachricht eintrifft, dass der Feind sich auf die Wahrung des Anscheins des Brandschutzes beschränkt und das Haus, davon abgesehen, tatenlos verlässt und damit im Angesicht der Ereignisse, trotz der vollzogenen Stürmung, seine Niederlage eingesteht. Wieder einmal, wie so oft davor, werden die Gesichter hinter den Visieren der Expeditionseinheiten lang und mit der Auflösung der Straßensperren wird das bittere Ende ihrer Operation eingeleitet.

Das Haus beginnt sich langsam zu regen, Menschen strömen bald von der Straße in den offenen Hof und gesellen sich zu denen, die im Haus gekämpft haben. Der Pulverdampf legt sich, das wehrhaft blühende Brombeergestrüpp im Hof und die Passiflora an der Fassade erhalten nach zwei heißen Tagen ihre erste Wässerung. Die Blätter recken sich gen Himmel und die Blüten erstrahlen in neuem, farbenfrohem Glanz. Und dann, wie durch ein Wunder, erscheint das Phoenicurus-Paar. Heil, mit leuchtendem Schwarz und Rot, unbeschadet der Explosionen und des Pulverkriegs in ihrem Reich, setzen sie zur ersten Runde durch den Hof an. Sie verweilen für einen Moment zwischen Dornen und Drahtklingen, um dann zu ihrem Nachwuchs zu stoßen, der sie schon hungrig erwartet.

Sonnenstrahlen, Zeugen der Regeneration, tauchen die Asche auf der Rigaer Straße in gleisendes Licht, als mit den Feierlichkeiten begonnen wird. Der Einmarsch der Demonstration am Abend wird zur Siegesparade. Jubelnd ziehen hunderte von Menschen in das eben noch umkämpfte Gebiet, wo vor dem Haus unter donnernden Pyroschlägen und Raketenfeuerwerk zu minutenlangem Beifall angesetzt wird. Eine Rede besiegelt den gemeinsamen Erfolg und viele Stunden werden danach gesellig auf dem noch heißen Asphalt verbracht. Die Rigaer ist wiederauferstanden.

Und auch wenn die Schergen des Staates und die Hauseigentümer an diesem Tage als Verlierer abgezogen sind, wer weiß, vielleicht war es dennoch ihr glücklichster Tag. Denn der Volxmund sagt auch: Wer dem Phoenicurus etwas zuleide tut, dem bringt er Feuer in das Haus.

 

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