„Dastehen mit der Waffe und Leute abballern“

Von Ibrahim Naber, Lennart Pfahler, Manuel Bewarder, Uwe Müller

Im größten Verfahren gegen Linksextremisten seit Jahren hat der Generalbundesanwalt nach WELT-Informationen Anklage erhoben. Eine Gruppe um die Studentin Lina E. soll politische Gegner ausgespäht und attackiert haben. Den Ermittlern halfen abgehörte Gespräche im Auto.

Für den Krankenpfleger M. schien sein Smart Fortwo ein Ort zu sein, an dem er offen reden konnte. So wie im April 2020. Es mache für ihn keinen Unterschied, sagte der 26-Jährige da, ob er auf Demos einen „Bullen“ mit einem Straßenschild verprügele oder einem Nazi den Kiefer breche. M. ist Kampfsportler, er sprach an, wie genau er zuschlagen wollte. Fest und wuchtig würde er bei Überfällen prügeln, so lange, bis der Gegner am Boden liege.

Was der gebürtige Duisburger offensichtlich nicht wusste: nicht nur Freunde lauschten seinen Ausführungen im Smart, sondern auch die Polizei. Beamte hatten seinen Wagen seit Mitte Februar 2020 mit GPS-und Audiotechnik versehen. Über Monate hörten Ermittler mit, zeichneten Gespräche mit Gleichgesinnten auf, sammelten Beweise. Mittlerweile gilt M. als Beschuldigter im bedeutendsten Verfahren gegen deutsche Linksextremisten seit Jahren.

Nach Informationen von WELT hat der Generalbundesanwalt (GBA) in diesen Tagen Anklage gegen Jonathan M. und drei weitere mutmaßliche Mitglieder einer kriminellen Vereinigung vor dem Oberlandesgericht Dresden erhoben. Die Beschuldigten sollen politische Gegner – darunter szenebekannte Neonazis – ausgespäht und brutal attackiert haben.

Insgesamt werden der bundesweit vernetzten Gruppierung fünf gezielte Angriffe in wechselnder Besetzung zur Last gelegt. Hinzu kommen weitere Straftaten. Die Vorwürfe reichen von gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch bis hin zu räuberischem Diebstahl.

Das Verfahren, das auf Ermittlungen des Landeskriminalamts Sachsen fußt, ist eine Zäsur. Es ist Jahre her, dass Deutschlands oberste Ermittlungsbehörde derart gegen radikale Linke durchgriff. Zwar beobachten Verfassungsschützer seit ein paar Jahren, dass sich klandestine Gruppen in der Szene abspalten und politische Gegner angreifen. Viele Taten können jedoch nie restlos aufgeklärt werden.

Öffentlich bekannt wurde der gesamte Fall durch die Festnahme der Studentin Lina E. Ende 2020. Die Bilder, wie die in Kassel geborene Studentin per Hubschrauber zum Haftrichter nach Karlsruhe geflogen wurde, verbreiteten sich schnell. Genauso wie bald darauf ein Appell auf Twitter, tausendfach geteilt: #FreeLina. Freiheit für Lina.

In den Augen linker Aktivisten ist die 26-Jährige zum Opfer eines politischen Schauprozesses geworden. Es gehe darum, so der Vorwurf, die politische Linke zu kriminalisieren.

Nach Ansicht des GBA jedoch steht Lina E. im Zentrum der Anklage – als Kommandogeberin bei Attacken. Die Ermittler sprechen ihr eine „herausgehobene Stellung“ in der mutmaßlichen Vereinigung um Jonathan M. zu. Neben ihnen sind A. (26) und R. (35) angeklagt. Weitere Personen gehören ihrem nahen Umfeld an, sind jedoch kein Teil der aktuellen Anklage. Bis zu einer Verurteilung gilt wie immer die Unschuldsvermutung.

Wie die Angeklagten bei Angriffen offenbar vorgingen, zeigte sich in der Nacht auf den 19. Oktober 2019. Eine maskierte Bande aus mindestens zehn Personen – darunter offenbar Lina E. und R. – überfielen das „Bull’s Eye“ in Eisenach. Bereits Ende September soll das Lokal von zwei Personen aus ihrem Umfeld spätabends ausgespäht worden sein.

Die Kneipe gilt als Treffpunkt für Rechtsextreme. Betreiber ist Leon R., dem unter anderem Verbindungen zu der Neonazi-Gruppierung „Atomwaffen Division“ nachgesagt werden.

Das Lokal wurde bei dem Angriff verwüstet; mit Schlagstöcken oder Faustschlägen drosch man auf die Opfer ein. R. soll mit anderen vor der Kneipe Wache gestanden haben. In einem später abgehörten Gespräch, in dem es mutmaßlich um den Angriff in Eisenach ging, wird R. von einem Eingeweihten scherzhaft als schlechter „Spitzel“ bezeichnet.

Lina E. wiederum soll in der Kneipe dabei gewesen sein und Reizgas versprüht haben. Auf ihr Kommando hin, so nehmen es die Ermittler an, habe sich die Truppe schließlich wieder aus dem Lokal zurückgezogen. Sie flüchteten – unter anderem in dem auf E.s Mutter zugelassenen VW Golf 4.

Der zweite Angriff auf Leon R.

Nur zwei Monate später, Mitte Dezember 2019, soll die Gruppierung erneut Leon R. überfallen haben. Dieses Mal lauerten ihm demnach Lina E., A. und weitere Personen mitten in der Nacht vor dem Haus auf. Als er von Bekannten per Auto nach Hause gebracht wurde, sollen die maskierten Angreifer mit Schlagwerkzeugen auf R. und seine Begleiter losgegangen sein.

R. soll sich unter Androhung des Einsatzes eines mitgeführten Teppichmessers gewehrt haben. Die Opfer erlitten zum Teil Kopfplatzwunden und mussten notärztlich versorgt werden. Nach dem Überfall sollen die Angreifer in zwei Autos Richtung Autobahn geflohen sein, verfolgt von mehreren Streifenwagen.

Der Wagen von Lina E. und A. konnte noch in Eisenach gestoppt werden. An dem Auto war ein gestohlenes Leipziger Kennzeichen angebracht worden.

Auch an anderen Stellen versuchten die Beschuldigten offenbar, Spuren zu verwischen. Ein Vorwurf des GBA lautet gar „Fälschung“. In der Wohnung von A., stellten Beamte einen Ausweisdrucker mit behördlicher Kennzeichnung fest. Dies ist vor allem interessant, weil bei Lina E. ein Personalausweis gefunden wurde, der nicht auf sie ausgestellt war. Name und Geburtsdatum auf dem Ausweis ähnelten jedoch stark ihren eigenen Daten.

Der Hammer hing gleich hinter der Wohnungstür

Um ihre Identität zu tarnen, wechselten die Beschuldigten zudem häufig die Kleidung. So zum Beispiel vor einem mutmaßlichen Angriff auf Teilnehmer eines rechten Aufzuges in Wurzen im Februar 2020.

Mit Sturmhauben und Kapuzen vermummt soll die Vereinigung mehreren Demoteilnehmern aufgelauert haben. Erneut schlugen sie mit Schlagwerkzeugen auf die Köpfe ein. Die Attackierten, darunter ein 15-Jähriger, erlitten Platzwunden. Manche von ihnen mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Einige Opfer scheinen gezielt von der Vereinigung ausgewählt worden zu sein. Ihre Daten sind auf einer sogenannten 215er Liste enthalten, die selbst ernannte Antifaschisten unter der Überschrift „Die Täter des 11.01.2016“ ins Internet gestellt haben.

An jenem Tag war es einer Horde schwarz bekleideter und vermummter Hooligans und Rechtsextremisten gelungen, den Trubel bei einer Legida-Demonstration im Zentrum Leipzigs zu nutzen, um unbemerkt in das im Süden gelegenen Connewitz „einzumarschieren“. Der Mob zerschlug Schaufenster, zündete Sprengsätze und demolierte Autos. Die Polizei war schnell zur Stelle und kesselte die Gruppe ein, von jedem Einzelnen wurden Personalien festgehalten – Personalien, die jetzt in der „215er Liste“ stehen.

Dazu gehört auch Cedric S., Neonazi aus Wurzen, der Ende 2018 Opfer eines Angriffs der Gruppe um Lina E. geworden sein soll. Auf dem Weg zum Fußballtraining, in der Nähe seines Wohnhauses, hätten sie ihn laut Anklage abgepasst und attackiert. Bilder zeigen, wie stark das Gesicht von S. durch die Schläge anschwoll.

Einen ähnlichen Angriff planten die Linksextremisten offenbar im Juni 2020. Dort, so der Vorwurf, spähten sie in Leipzig ein mögliches Opfer aus: einen rechtsextremen Kampfsportler, Brian E. Erneut habe man akribisch Gewohnheiten des möglichen Opfers nachvollzogen, seinen Wohnort ausgekundschaftet.

Lina E. habe dabei Perücke getragen, ihre Schuhe gewechselt, um nicht aufzufallen. Sie besaß auch verschiedene Brillen. Man fand bei ihr zudem einen als gestohlen gemeldeten Personalausweis einer anderen Frau, in deren Rolle Lina E. mit ein wenig Verkleidungskunst schlüpfen konnte.

Schließlich reisten Vertraute aus Berlin nach Leipzig – zur „Tatvorbereitung“, wie die Ermittler annahmen. Unter ihnen M., womöglich, weil man mit Gegenwehr des Ausgespähten rechnete. Zu einem Angriff kam es in diesem Fall nicht, da Behörden rechtzeitig eingriffen. Auch Brian E. stand auf der 215er-Liste.

Das Auftauchen auf der berüchtigten Liste schien für die Vereinigung jedoch nicht das einzige Kriterium bei der Wahl der Ziele zu sein. Teil der Anklage ist auch ein Angriff, der offenbar anders gelagert ist. Im Januar 2019 sollen sie in Leipzig einen Kanalarbeiter konfrontiert haben, der gerade mit einem Arbeitskollegen Dachrinnen reinigte.

Einer der Vermummten habe dem Arbeiter unvermittelt einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Dann habe die Gruppe begonnen, gemeinsam auf den am Boden liegenden Mann einzuprügeln. Eine Frau, bei der es sich um E. handeln soll, habe umstehende Passanten mit Pfefferspray davon abgehalten, einzugreifen. Sinngemäß habe sie gesagt, das Opfer sei ein Nazi und habe die Schläge verdient.

Der bislang vermutete Grund für die Attacke klingt banal: Das Opfer soll eine Mütze der Marke „Greifvogel Wear“ getragen haben, die der radikal rechten Szene zugerechnet wird. Der Mann erlitt Platzwunden und einen Bruch des Mittelgesichts; sein Jochbein und die Knochen ums Auge mussten mit Metallplatten fixiert werden.

Der Angriff ereignete sich mutmaßlich nur wenige Gehminuten von Lina E.s Adresse entfernt. An der Zimmertür in ihrer Wohnung stießen Beamte vor Monaten auf Beutel in unterschiedlichen Farben. Darin befanden sich Mobiltelefone, Perücken, Hammer.

Wurde die Gruppe um E. leichtsinnig?

Wegen des Diebstahls von zwei Hämmern im Wert von 37,98 Euro in einem Obi-Baumarkt war E. Ende 2019 bereits ins Visier der Polizei geraten – am Vortag des ersten Angriffs auf die Kneipe in Eisenach. Warum E. die Hämmer klaute und damit die Identität der mutmaßlichen Vereinigung aufs Spiel setzte, ist eine der bislang ungeklärten Fragen. Ob sie sich irgendwann zu sicher fühlte?

Rätselhaft bleibt auch die genaue Rolle von E. innerhalb der Gruppe. Während alle anderen Beschuldigten bereits in den Jahren zuvor polizeilich in Erscheinung getreten waren, galt sie als relativ unauffällig. Ihr ehemaliger Uni-Professor sagt, er habe keine besondere politische Einstellung wahrgenommen. Ihre Bachelorarbeit in Halle schrieb E. über den „Umgang mit Neonazismus in der Jugendarbeit“.

Eine These von Ermittlern ist, dass E. über ihren derzeit flüchtigen Partner G. in radikal-linke Strukturen gelangte. G. fiel, wie WELT AM SONNTAG berichtete, bereits als Jugendlicher mit Straftaten auf und gehörte der autonomen Szene an. Er ist mittlerweile als sogenannter linksextremer Gefährder eingestuft, einer Person also, der Behörden jederzeit politisch motivierte Straftaten von großer Bedeutung zutrauen.

Das Ermittlungsverfahren des GBA gegen die mutmaßliche Vereinigung umfasste Ende Oktober 2020 noch zehn Beschuldigte. Dass in der jetzigen Anklage nur vier von ihnen eine Rolle spielen, spricht den Rest nicht frei. Entweder könnte eine weitere Anklage des GBA folgen oder aber die Ermittlungen würden zurück an die Bundesländer wandern.

Vieles spricht dafür, dass sich die Angeklagten um M. demnächst vor Gericht verantworten müssen. Dort könnte er auch mit seinen Aussagen aus den abgehörten Gesprächen konfrontiert werden.

Im Juni 2020 soll er gesagt haben, dass er bei einem weiteren Erstarken politischer Ideen und Parteien wie der AfD möglicherweise Konsequenzen ziehe. Bei Kundgebungen werde er „dastehen mit der Waffe und Leute abballern“.