Fast jede Nacht eine Explosion – bis das SEK ins Wohnhaus stürmt

In einer Berliner Wohnung zweier junger Männer stößt die Polizei auf neun scharfe Rohrbomben. Nachbarn berichten WELT von einer monatelangen Serie – seit Oktober ging fast jede Nacht ein Sprengkörper hoch. Steckt ein politisches Motiv dahinter?

Wen man auch fragt in dem weiträumigen Wohnblock im Berliner Bezirk Schöneberg – alle hier haben die Explosionen im Ohr. Die jüngste, besonders schwere, aber auch all die anderen zuvor.

Schon seit Ende Oktober habe es alle paar Nächte geknallt, meist zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh, berichten viele Bewohner übereinstimmend. Immer wieder habe es im Innenhof diese Detonationen gegeben.

In der Wohnanlage regte sich Unmut, weil Bewohner immer wieder aus dem Schlaf gerissen wurden. Viele rätselten, welcher Nachbar wohl dahinterstecke. Mancher rief die Polizei, aber da man lange nicht wusste, woher die Sprengkörper geworfen wurden, kam monatelang nichts dabei heraus.

Bis am Abend des 4. Februar ein großes Polizeiaufgebot erschien und das Spezialeinsatzkommando (SEK) in die Wohnung im obersten Stock des Hauses eindrang, in der Gxxx D. und ein zweiter Mann leben.

Eine Nachbarin erzählt, die Polizei habe sie angewiesen, im hinteren Teil ihrer Wohnung auszuharren. Dort habe sie fast eine Stunde gesessen, während der Rest des Hauses evakuiert wurde – bis ihr ein Lärm draußen anzeigte, dass das SEK nun in jene Wohnung drang. Gxxx D. wurde festgesetzt, in seinem Zimmer fand die Polizei neun scharfe Rohrbomben.

Gegen den 29-Jährigen wurde ein Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts diverser Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz erlassen. Er sitzt in Untersuchungshaft.

Man prüft, ob es einen Zusammenhang zu einer Explosion am 20. Januar in der Nähe gibt. Dabei wurden Fensterscheiben und Autos beschädigt. In der Umgebung fand die Polizei eine weitere Bombe, die noch nicht detoniert war.

Der Fall wirft viele Fragen auf. Auch jene, ob es ein politisches Motiv für den Bombenbau geben könnte, wie Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik vor einigen Tagen erklärt hatte.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte hingegen am Donnerstag im Abgeordnetenhaus, auf einen linksterroristischen Hintergrund gebe es nach den bisherigen Erkenntnissen der Ermittler derzeit keinen Beleg.

Eine Nachbarin berichtet, die beiden jungen Männer seien freundlich gewesen und hätten oft Pakete für sie angenommen, weil sie viel daheim gewesen seien. Ein anderer Nachbar sagt, Gxxx D. sei ihm schon länger aufgefallen. „Der hat im Keller irgendwas gesägt und gemacht und sich darin eingeschlossen. Das tut hier sonst keiner.“

Er habe ihn darauf angesprochen und ihm gesagt: „Ich habe dich im Auge.“ Als er dann hörte, der junge Mann sei Lehrer, habe er sich gesagt, na, wenn das so ist, dann ist ja wohl alles in Ordnung mit ihm, und die Sache vergessen.

Der Mann erwähnt seinen Wehrdienst, daher die Frage: Begriff er, dass es keine Böller waren, die da nächtens im Innenhof oder auf der Straße detonierten, wie viele im Wohnblock dachten? Der Krach brachte sie um den Schlaf, aber nicht auf den Gedanken, es könnten selbst gebaute Bomben sein.

Ja, sagt der militärisch ausgebildete Nachbar, manchmal seien es Detonationen gewesen, die anders klangen als Böller, bedrohlicher. „Auch anders als heftige Polenböller.“ Dumpfer, wuchtiger.

Im Innenhof sahen sie nur noch Rauch

Die schwerste Detonation, so nahmen es viele Bewohner wahr, erschütterte dann am Abend jenes 4. Februar die Wohnanlage. Etliche berichten von scheppernden Fenstern.

Martina B. saß gerade in ihrer Wohnung im zweiten Stock, als aus dem Innenhof plötzlich ein donnernder Knall drang. Wie eine Explosion habe sich das angefühlt, erinnert sich die Anwohnerin, so groß war auch ihr Schreck.

Als sie aus ihrem Fenster in den Innenhof blickte, sah sie nur noch Rauch. Von Wand zu Wand sei er hochgestiegen, so etwas habe sie „noch nie gesehen“. Kurz danach, gegen 20.25 Uhr, im Fernsehen lief gerade ein Merkel-Interview, rief Martina B. die Polizei an.

Blau-weiße Einsatzwagen parkten wenig später die Straße unweit des Innsbrucker Platzes zu. Als Beamte den Innenhof durchkämmten und Rohrbomben fanden, wurden die Bewohner des Hauses evakuiert.

Spezialkräfte des SEK rückten an. Sie nahmen noch vor Mitternacht jene zwei jungen Männer fest, die im obersten Geschoss lebten. Einer der Verdächtigen ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Im Ermittlungsverfahren gilt er weiterhin als Beschuldigter.

Erstmals habe sie eine Explosion im Innenhof im Oktober wahrgenommen, sagt Martina B. mit Blick auf die vergangenen Monate. Ende 2020 begann sie, die Explosionen zu dokumentieren. Ihre Liste will sie nun der Polizei zur Verfügung stellen.

Schon im November, erinnert sie sich, habe sie die mobile Wache im Bezirk auf die mutmaßlichen Bomben in ihrem Hof aufmerksam gemacht. Man habe ihr geantwortet, dass sie die Polizei direkt rufen solle, wenn es noch mal passiere.

Als im Dezember aus der nahe liegenden Grünanlage ein weiterer Sprengkörper hochging, so heftig, dass laut Martina B. die Fenster wackelten, benachrichtigte sie wieder die Polizei. Gleiches tat sie Ende Januar, nachdem an einer Baustelle im Bezirk ein Gegenstand explodiert war. Wirklich unternommen habe die Polizei nichts – die Explosionen im Hof gingen weiter.

Martina B. sagt, die beiden Männer habe sie nicht gekannt, auch nicht vom Sehen. Sie hofft einfach, dass nun Ruhe im Haus einkehrt.

Als Kimberly Bird im Oktober 2020 in das Haus Nummer vier zog, fing es mit den Explosionen im Innenhof gerade an. „Ich dachte“, sagt die Amerikanerin, „das sei vielleicht so ein Berlin-Ding“. So in der Art: Na ja, man zieht aus dem stillen US-Staat Utah ins wilde Berlin, da kracht’s eben ab und zu. Aber sie wunderte sich schon.

Bereits am 16. Oktober schrieb sie in die Facebook-Gruppe „Americans in Berlin“ über die Explosionen in ihrer Nachbarschaft. „Was ist hier los????“ Sie fragte in die Gruppe, ob es sein könne, dass Menschen in Berlin um 4.30 Uhr nachts gerne Feuerwerk zündeten.

Der Nachbar, der Gxxx D. im Keller gewarnt hatte, sah ihn dann am Abend seiner Festnahme in einem Polizeiwagen sitzen. Und dem anderen jungen Mann, der wieder freigelassen wurde und derzeit nicht in der Wohnung anzutreffen ist, begegnete er, als dieser, die Kapuze tief im Gesicht, das Haus verließ. „Na, was habt ihr denn da oben angestellt?“, habe er ihn gefragt.

Damit habe er nichts zu tun, habe ihm Gxxx D.s Mitbewohner geantwortet: „Ich wusste nicht, was der in seinem Zimmer macht – das Arschloch hat sein Leben zerstört und meines fast auch.“ Ob das stimmt? Auch das ist Gegenstand der Ermittlungen.

 

Von Wolfgang Büscher, Ibrahim Naber „Investigativredaktion“
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus226205029/Rohrbomben-in-Berlin-Fast-jede-Nacht-eine-Explosion-bis-das-SEK-ins-Wohnhaus-stuermt.html

Ein-Bild-aus-der-Nacht-des-Polizeieinsat.jpg

passiert am 04.02.2021