ACSD 2020 – Emancipate, liberate, cooperate – gegen jeden Krieg, gegen jede Herrschaft und ohne Nationalfahnen!

„Emancipate, liberate, cooperate – gegen jeden Krieg, gegen jede Herrschaft und ohne Nationalfahnen!“

Lasst uns nicht vergessen: Stonewall war ein spontaner militanter Aufstand von Menschen verschiedener Hautfarben und Herkunft, von Sexworker*innen und Unterdrückten.

Rückblick und Auswertung des ACSD 2020 in Berlin

Die Orga-Gruppe: Wir sind eine sehr kleine Gruppe und dabei alles andere als homogen. Wir vereinen unterschiedliche Perspektiven, Identitäten, Erfahrungen und Standpunkte miteinander. Wir haben uns für den ACSD 2020 zusammengefunden und sind gerade dabei uns als Gruppe zu formieren und gemeinsame Standpunkte auszuhandeln. Dabei gehen wir einen Schritt nach dem anderen, auch wenn es uns manchmal schwerfällt zu akzeptieren, dass dies ein langsamer Prozess ist. Dennoch sind wir froh, dass wir den ACSD 2020 gewagt haben und möchten euch hiermit an unserer Nachbereitung teilhaben lassen.

1. Ablauf und Eindrücke

Der anarchistische CSD fand am Samstag 25.07.2020 statt und startete um 18 Uhr am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Die Sonne schien. Anders als der kommerzielle CSD brachten wir unseren Protest auf die Straße. Auch wenn die Corona-Einschränkungen das Ganze schwieriger machten, formierten über 1000 Leute mit anarchistischer Vermummung die Demo. Wir wollten auf soziale „Abstände“ statt auf „Hygieneabstände“ aufmerksam machen. Die sozialen Abstände wollten wir mit der Demo überwinden und gemeinsam ein starkes Zeichen des Widerstands gegen die Grenzziehungen zwischen Menschen setzen. Denn die Grenzen sind schon lange vorher von den Herrschenden gezogen worden und werden mit Gewalt aufrecht erhalten. Wir kritisierten den Umgang der Herrschenden im Rahmen der Corona-Pandemie: Die Fokussierung auf die Hetero-Familie als Kern der Gesellschaft und die Ignoranz gegenüber queeren Bedürfnissen und kollektiven Lebensweisen. Wir hatten dazu auch zwei Fragen für unser Offenes Mikrofon vorbereitet, welches wir an zwei Stellen während der Demo machen wollten, um auch anderen die Möglichkeit zu geben zu sprechen. Die Fragen waren: „Wie gehen wir mit Corona um?“ und „Wie gehen wir in der linken, queeren Szene mit Konflikten um?“. Die erste Frage ergibt sich aus der aktuellen Situation und die zweite Frage aus der Beobachtung, dass es immer wieder Konflikte gibt und diese viel zu selten produktive Lösungen finden.

Wir wurden während der Vorbereitung zum ACSD 2020 immer wieder auf den letztjährigen „Radical Queer March“ angesprochen und gefragt, wie wir mit „antideutschen“ bzw. Pro-Israel- und Pro-Palästina-Gruppen umzugehen gedenken im Fall von Störungen. Wir hatten mit der Orga des „Radical Queer March“ nichts zu tun, aber wir hatten klar, dass wir uns nicht die Demo kaputt machen lassen werden. Von daher haben wir im Vorfeld und am Anfang der Demo durchgesagt, dass wir bei jeglichen Konflikten ggf. den Demozug stoppen und die jeweiligen Dinge klären. Eine Intervention durch die Bullen waren wir ebenfalls nicht bereit zu akzeptieren. Falls Leute mit Flaggen auftauchen, würden wir das Gespräch suchen; der ACSD sollte keine Spielwiese für nationale Flaggen-Ernas*Heinis werden. Den Rest waren wir bereit, auf uns zukommen zu lassen. In Anbetracht der kurzen Vorbereitungszeit blieb uns auch nicht viel anderes übrig.

Leider haben wir vieles nicht organisiert bekommen, was wir uns gewünscht und angedacht hatten. Wir nahmen im Vorfeld mit diversen queeren Gruppen Kontakt auf, mit Queers aus der BIPoC-Szene (Black/Indigenous/People of Color), mit türkischen und arabischen Queers, mit der „Behindert & Verrückt Feiern Pride“, wir haben sie eingeladen sich zu beteiligen. Aber uns fehlte die Zeit, um tragfähige Bündnisse und Allianzen aufzubauen. Wir hätten uns vor allem eine stärkere Einbindung von queeren Gruppen mit einer BIPoC-Perspektive gewünscht und finden es schade, dass wir es für diesen ACSD nicht geschafft haben, Bündnisse aufzubauen. Wir haben uns mit einigen Leuten von Bloque Latinoamericano getroffen und wir haben unsere jeweiligen Positionen dargelegt (an alle Danke für die Beratung und den Austausch!). Wir wissen, dass da noch Luft nach oben ist. Wir wollten den ACSD dennoch nicht unversucht lassen.

Wir sind auch sehr dankbar für den wertvollen Input und die Zusammenarbeit mit dem Mad- & Disability Pride Bündnis und müssen hier selbstkritisch anmerken, dass wir es in der Kürze der Zeit nicht geschafft haben, die Demo so barrierefrei zu gestalten, wie wir es uns gewünscht haben. Angedacht waren u.a. ein Ruhewagen, eine Übersetzung in deutsche Gebärdensprache und eine bessere Infrastruktur für Personen mit Rollstuhl. All das erforderte Zeit und finanzielle Mittel, die wir leider für diese Demo nicht hatten.

Was uns auch gefehlt hat war eine funktionierende Funkstrecke mit mehreren Mikros, ein paar DJ*s und weniger imperiale Musik, mehr Übersetzungen, eine eingehendere Vorbereitung des Awareness-Teams im Vorfeld (umso mehr: Danke, Leute!)… Wir sehen all dies als Möglichkeiten, wie wir den ACSD 2021 noch besser gestalten können. Im Zuge der Nachbereitung fangen wir gerade an darüber zu sprechen, wie wir den kommenden ACSD gestalten wollen.

Der Auftakt

Nach Erläuterung des anarchistischen Vermummungsgebots und einem kurzen Auftakt zog die Demo zuerst Richtung Hermannplatz. Da wir eine sehr kleine Vorbereitungsgruppe waren, mussten noch verschiedene Aufgaben an Freiwillige verteilt werden. Unser Banner „Liberate, Emancipate, Cooperate: Queer Anarchist CSD“ wurde gleich von vielen tollen Menschen getragen und bildete den Kopf des Zugs. Weiter hinten gab es dann jede Menge weiterer Banner und Fahnen. Über den Lauti gaben wir noch einmal bekannt, dass auf der Demo keine Partei- und Nationalflaggen oder -banner erwünscht sind, weil wir gegen jede Form von Nationalstaatlichkeit, Staatlichkeit und gegen Krieg eintreten. Die vorgesehene Route sollte uns durch Kreuzberg und Neukölln führen, vorbei an den Orten, wo die Herrschenden einerseits Migrant*innen und finanziell benachteiligte Menschen verdrängen und stigmatisieren und auch die letzten Reste von Freiraum und Selbstbestimmung abwürgen wie das bereits geräumte Syndikat.

Vom Hermannplatz über die Sonnenallee

Bei Einfahrt auf den Hermannplatz trugen wir unseren lautstarken Protest gegen Gentrifizierung und die Pläne des Fascho-Karstadt-Milliardärs Benko vor die Karstadt-Filiale. Außerdem wiesen wir auf die Rolle des ehemaligen Kriegsaußenministers der Grünen Joschka Fischer hin. Dieser betreibt sogenanntes Greenwashing, um das Projekt des FPÖ-Anhängers Benko salonfähig zu machen. Dann wurden zwei Reden gegen die Doppelmoral gegenüber cis-weiblichen und cis-männlichen Brüsten gehalten. Der andere Beitrag mit einer grundsätzlichen Position kam von uns als Orgagruppe (siehe Webseite). Als der Rattenchor anstimmte, ging die Stimmung durch die Decke. Liebster Rattenchor, es war großartig und hat der Demo einen super Drive gegeben!

Immer mehr Leute kamen zur Demo. Wir zogen weiter auf die Sonnenallee. Die Sonnenallee ist einer der Orte mit homofeindlichen, transfeindlichen, rassistischen und faschistischen Attacken auf queere und migrantisierte Menschen. Deshalb war es uns wichtig, gegen patriarchale Strukturen, Unterdrückung, kapitalistische Ausbeutung, Rassismus, Fundamentalismus, Bullenattacken, faschistische Angriffe und Mackertum Präsenz zu zeigen

Im Vorfeld zur Demo haben wir uns deshalb mit einigen Gruppen aus dem Kiez in Verbindung gesetzt, um von aktuellen Kämpfen und Widersprüchen zu erfahren und uns auf geeignete Weite solidarisch zeigen zu können. Die Bedingungen des Kiezes sind unser aller Bedingungen! Es war gut, dass engagierte Mitstreiter*innen unsere Redebeiträge ins Türkische und Arabische übersetzten.

Danke dafür!

 

 

Die Demo zog weiter die Sonnenallee runter. Etwa 200 Meter vor der Bäckerei Damaskus, an der wir den nächsten Redebeitrag geben wollten, kam die Demo zum Stehen. Es hatte quasi gleichzeitig zwei unterschiedliche Angriffe auf die Demo gegeben. Am Ende des Demozugs kam es zu einem transfeindlichen Angriff, nachdem in eine sexistische Situation aus der Demo heraus eingegriffen wurde. Wie wir vorab als Verhaltensweise bei solchen Vorfällen vorgeschlagen hatten, blieben die Umstehenden stehen, bis die Sache geklärt war. Vorne lief die Demo noch eine ganze Weile weiter, bis die Info von hinten auch vorne angekommen war. Zeitgleich wurden Moderation, Lauti-Fahrende, Radengel und weitere Personen von einer Demoteilnehmenden und einer kleinen Gruppe ihrer Anhänger*innen teilweise sehr aggressiv im vorderen Teil der Demo angeschrien und in Beschlag genommen. Das war insbesondere ungünstig, als der Redebeitrag mitsamt Übersetzung vor der Bäckerei Damaskus lief, die vor einigen Wochen Ziel eines faschistischen Angriffes geworden war. Leider ist es uns in der Kürze der Vorbereitungszeit nicht mehr möglich gewesen, die Bäckerei Damaskus selbst mit einzubeziehen und zu fragen, ob sie selbst auch einen Redebeitrag halten wollen. Das hätten wir gerne inklusiver gestaltet. Der Beitrag war uns dennoch so wichtig, dass wir an Ort und Stelle auf die Angriffe auf die Bäckerei aufmerksam machen wollten.1

Diese unübersichtliche Situation mit mehreren Konflikten während eines Redebeitrags war für uns die heikelste wie auch stressigste Situation auf der Demo und wir widmen ihr unten einen gesonderten Abschnitt in unserer Auswertung.

Richtung Erkstraße, Flughafenstraße und zurück zum Hermannplatz und Abschluss

Der Zug bewegte sich weiter Richtung Erkstraße und Flughafenstraße. An der Ecke Karl-Marx-Straße erwartete uns ein Highlight mit Tuba, Saxophon und Trompete: Die queere BLASmusik-Kombo Transophonix spielte ein paar geile Lieder. Das war riesig, megadank! An der Ecke Hermannstraße gab es einen weiteren Redebeitrag gegen die schamlosen Taktiken der Investoren, Wohnraum zu kommerzialisieren. Und ein Mensch aus der Demo hielt spontan eine Rede, dass es wichtig ist, dass es den anarchistischen oder wie auch immer CSD gibt, weil viele queere Menschen von Mobbing auf dem Arbeitsplatz betroffen sind. Wir sendeten Grüße Richtung Syndikat, einer Berliner Kneipe, welche mittlerweile durch den rot-rot-grünen Senat mit 700 Bullen geräumt wurde…

Wir bogen in die Hermannstraße ein und die Demo zog zurück in Richtung Hermannplatz. Die Menschen waren super drauf. Der CSD hat seinen politischen Charakter zurückerhalten! Wir zeigten, dass wir da sind und gegen den Ausverkauf der Stadt und Unterdrückung eintreten. Mit dem Lied „Smalltownboy“ von Bronski Beat auf den Lippen liefen die 800 Leute die Hermannstraße herunter. Die Menschen auf der Demo feierten: Wir waren präsent, wir standen zusammen, wir zeigten Widerstand!

Leider konnten einige Redebeiträge wegen der Vorkommnisse auf der Sonnenallee nicht gehalten werden. Auch die geplanten Open-Mic-Runden mussten ausfallen und damit nicht zuletzt die wichtige Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir mit Konflikten in den linken Strukturen umgehen wollen. Gemäß unseres Mottos „Gegen jeden Krieg“ rufen wir dazu auf, die eskalative Impulse und Haltungen in unserer Szene zu überwinden.

Der Rattenchor und danach FaulenzA kamen ans Mikro… Da wurden die Bullen nochmal nervös, es war schon Viertel nach Zehn und der Rap-Text zeigte klare Kante gegen Bullen 😉 Fantastische Stimmung und ein tolles Ende eines geilen, perversen, sexuellen, warmen, liebevollen, radikalen und kämpferischen ACSD 2020.

2. Besondere Vorkommnisse

Im Folgenden wollen wir uns konkreter auf die Vorkommnisse beziehen, die gegen den Charakter des ACSD in Berlin gerichtet waren und von uns teilweise als Angriffe auf uns bzw. Übergriffe auf Personen erlebt worden sind. Wir möchten in dieser fokussierten Auswertung a) mit Euch teilen, was wir als An- und Übergriffe erlebt haben und b) damit eine Voraussetzung dafür schaffen, die Verantwortung für das Gelingen des zukünftigen ACSD 2021 auf mehrere Schultern zu verteilen, indem Transparenz über bestimmte Konfliktverhältnisse hergestellt wird. Wir wünschen uns eine Verantwortungsübernahme, die von politischen Strukturen getragen wird, die sich von der Idee eines anarchistischen CSD inspiriert fühlen oder sich als Teil davon sehen. Wir verstehen uns als ein emanzipatorisches Projekt: wir wollen einen offenen, anschlussfähigen CSD für Menschen, die auch auf der Suche nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft sind und diese Perspektive mit anderen Queers teilen wollen. Wir glauben, dass wir in einem ACSD auch Kontroversen Raum geben können und sollten. Wir akzeptieren dabei allerdings keine doktrinären, keine übergriffigen, keine taktischen, keine identitären, keine ideologischen und poststalinistischen Vorgehensweisen gegen uns oder uns verbündete Gruppen und Personen.

Wir hatten uns erlaubt, im Vorfeld des ACSD einige Setzungen vorzunehmen, die uns inhaltlich wichtig sind und die den besonderen Charakter der Demo ausmachen: Als Anarchist*innen lehnen wir Nationalstaaten und ihre Symbole als positiven Bezugspunkt ab, wir wenden uns gegen Kriegslogiken und wir klären unsere Dinge selbst. Das bedeutet, dass wir den Wunsch der staatlichen Organe, in die Demo einzugreifen, so weit es geht in seine Schranken weisen und ggf. den Demozug anzuhalten und gemeinsam auftretende Störungssituationen zu klären.

In der Vergangenheit ist verschiedenen CSD-Gruppen der Israel-Palästina-Konflikt aufgezwungen worden, zuerst 2003 durch – in unserem Augen autoritäre – „Antideutsche“. Nach Provokation durch „Antideutsche“ eskalierte 2019 ein Konflikt mit BDS- bzw. Pro-Palästina-Gruppen auf dem Radical Queer March: Die Orga-Gruppe des Radical Queer March war völlig überrumpelt von der Dynamik vor und während der Demo, es kam zu einem Polizei-Einsatz gegen den BDS-Block und schlussendlich wurde die Demo abgebrochen. Die Demoleitung hat die Polizei nicht bestimmt genug aus der Demo verwiesen bzw. den Polizei-Einsatz in ihrer Überforderung toleriert. Ein Teil unserer Gruppe hatte einige Wochen zuvor den Libertären CSD organisiert und dabei klargestellt, dass Nationalfahnen dort nichts zu suchen haben. Daran haben sich die Teilnehmenden gehalten. Aber der libertäre CSD 2019 war auch nicht in den Fokus von Pro-Israel- oder Pro-Palästina-Gruppen geraten. Der Konflikt zwischen „Antideutschen“ und Pro-Palästina-Gruppen bzw. zwischen beiden und den jeweiligen Alternativ-CSD-Orga-Gruppen zieht sich wie ein Wurmfortsatz eines nie wirklich emanzipatorisch aufgelösten Widerspruches durch die gesamte Szene. Unserer Analyse nach geht es den von außen in die CSDs hinein agierenden Personen aber eben nicht um queere, emanzipatorische und solidarisch aufeinander bezogenen Kämpfe, sondern offenbar eher um Spaltung – jedes Jahr aufs Neue.

Wie oben schon erwähnt, gab es einen Tag vor der Demo ein von uns initiiertes Treffen mit einigen Personen, die zu Pro-Palästina-Gruppen zu zählen sind. Wir nahmen über verschiedene Kanäle und bereits Monate im Vorfeld mehrfach Kontakt zu Gruppen auf und luden sie ein (unter anderem zu der Gruppe QuARC, diese Kontaktaufnahme wurde allerdings nicht beantwortet). Von unserer Seite ging es bei dem Treffen darum, Offenheit für eine Beteiligung verschiedenster Perspektiven zu signalisieren und über eine eventuelle Zusammenarbeit zu reden. Konkret tauschten wir uns mit ihnen erst einmal über unterschiedliche Positionen aus und diskutierten Differenzen. Unsere Setzung, keine Nationalfahne mitbringen zu können, wurde als „Silencing“, also das Zum-Schweigen-Bringen von marginalisierten Gruppen und Befreiungsbewegungen durch Nutznießer*innen weißer2 Vormachtstellung interpretiert. Leute aus den anderen Gruppen bezogen sich positiv auf Bewegungen, die für ihre Befreiung kämpfen und sich dabei auf nationale Symboliken wie Fahnen stützen. Für uns sind diese aus anarchistischer Sicht vor allem auf Grund der Analyse nationaler Befreiungsbewegungen und der Herausbildung neuer patriarchaler und ökonomischer Herrschaftsverhältnisse politisch gerade kein positiver Bezugspunkt. Wir verabredeten, nach dem ACSD dieses Gespräch fortzuführen, z. B. in Hinblick auf gemeinsame und unterschiedliche Perspektiven und luden sie ein, einen Beitrag beispielsweise zu Palästina zu halten. Die Vertreter*in von QuARC erschien trotz erklärter Absicht leider nicht.

Auf der Demo fand sich dann jedenfalls von Beginn an ein kleines Pro-Palästina-Grüppchen, einige Mitglieder identifizierbar als zugehörig zu den Gruppen QuARC und BAP, mit Plakaten, auf denen zwar keine klassische Fahne der PLO/Palästinas zu sehen war, aber etwas, dass sich als queer-verfremdete Palästinafahne lesen lässt. Die Fahne ähnelt einerseits der noch recht neuen „Philly-Flagge“, die wie gehabt den Regenbogen abbildet, die an der rechten Seite aber auch ein Dreieck aus braunen und schwarzen Streifen (als Repräsentation der BIPoC Queers) sowie Streifen in den Transgenderfarben (blau, rosa, weiß) ziert. Vor allem aber durch die Farben und deren Anordnungen im Zentrum des Plakats haben viele dieses als einen beabsichtigten Bezug auf die palästinensische Fahne identifiziert. Zweimal suchten Leute von uns das Gespräch mit dieser Gruppe, die wir im weiteren Text „die eskalierende Gruppe“ nennen werden. Die Kontakt suchenden Personen wurden entweder angeschrien oder eine die Gruppe anscheinend anführende Person gab eine Art Befehl, nicht mit ihnen zu reden. Die Demo-Orga entschied kurzerhand, dass wir uns an den Bannern und der Gruppe nicht weiter abarbeiten wollten. Wir haben das für diese Demo hingenommen. Über den Lauti und mit unserem Jingle gaben wir aber wiederholt bekannt, dass auf der Demo keine parteilichen Nationalflaggen oder -banner erwünscht sind. Ein Ausschluss der Gruppe erfolgte zu keiner Zeit. Alles andere ist eine Lüge.

In der Nähe der Bäckerei Damaskus in der Sonnenallee wurden die Demo-Moderatösen und andere Orga-Beteiligte von Leuten aus der eskalierenden Gruppe plötzlich verbal attackiert, insbesondere durch permanentes Anschreien. Ein angemessener Umgang mit den zeitgleich stattfindenden transfeindlichen Attacken von Leuten auf der Straße auf einige arabische, queere Teilnehmer*innen im hinteren Teil der Demo wurde dadurch massiv erschwert. Es war der schwierigste Moment der Demo, alles zusammen zu halten, zumal auch noch der Redebeitrag vor der Konditorei Damaskus gehalten werden sollte (diese war Wochen zuvor von Nazis angegriffen worden). Aber nun hatten wir drei Konflikte gleichzeitig.

Erstens: Den transfeindlichen Angriff am Ende der Demo.Zweitens: Die eskalierende Gruppe rund um den Redebeitrag. Und Drittens: Plötzlich mussten wir die Cops in Schach halten, die wegen der schreienden Anführer*in der eskalierenden Gruppe auf den Plan getreten waren.3 Inhalt des Geschreis war der „Wunsch“ nach dem Mikrofon und der Vorwurf des Silencens.4

Zudem beschimpfte sie die Teilnehmer*innen der Demo als Rassisten, ebenso die Moderation.5 Eine*r unserer Radengel wurde massiv angeschrien. Radengel können nicht einfach von ihrer Position weggehen und dem Anschreien ausweichen. Der Lauti wurde durch Blockade kurz am Weiterfahren gehindert. Neben den vielfältigen Beschimpfungen misgenderten sie die Moderation, auch nach einem entsprechenden Hinweis. Ständig filmten irgendwelche Leute aus der eskalierenden Gruppe ihre Anführer*in in Aktion und ungefragt auch andere Teilnehmer*innen – auch das wurde als eindeutig übergriffig wahrgenommen. Für uns gab es eigentlich keine Veranlassung, einem Menschen das Mikro auszuhändigen, die*der den eigenen Leuten das Sprechen mit uns verbietet und sich weigert, Widersprüche mit uns zu diskutieren. Obwohl die Anführenden der eskalierenden Gruppe sich der Demo als ganzes gegenüber verantwortungslos verhielten, signalisierten wir, dass wir das Mikrofon zur Verfügung stellen, wenn keine weiteren Beschimpfungen vorgenommen und sich an die vorgegeben Zeit von drei Minuten, die alle Redebeiträge haben sollten, gehalten wird. Wir haben uns trotz steigenden Zeitdrucks nicht zuletzt deshalb so entschieden, weil sie sich damit auch öffentlich einer Kritik der Demo-Teilnehmer*innen stellen konnten, denen wir politisch vertrauten und auch, weil wir Leute vor weiteren verbalen Attacken schützen wollten. Wir entschieden auch, den Redebeitrag zum faschistischen Angriff auf die Bäckerei Damaskus zuerst zu machen, denn wir waren nicht bereit uns die Demo aus der Hand nehmen zu lassen: Wir waren ja u.a. wegen der Thematisierung des Rassismus in der Gesellschaft durch die Sonnenallee gezogen… Wie angedeutet, mussten wir diesen Beitrag gegen die Eskalation von Leuten aus der genannten Gruppe durchsetzen und sie auffordern, mit ihrem Geschrei einen Meter von den Redner*innen wegzutreten. Das Stören eines Redebeitrags mit drei Übersetzungen, wie auch das Attackieren von Orga-Leuten, ließe sich problemlos als Sabotage der Demo begreifen. Als Leute aus der eskalierenden Gruppe dann sprachen, ging es weder um anarchistische Beiträge zu Palästina und Israel, noch um irgendeine Form eines politisch-queeren Bezugs zur Demo. Aufgrund der zeitintensiven Eskalationen konnten dann andere Beiträge nicht mehr gehalten werden: Redebeiträge gegen rassistische Gewalt vor der Polizeiwache in Neukölln und gegen die Räumung der Liebig 34, sowie zwei offene moderierte (!) Mikrofone – auch das ließe sich als Sabotage verstehen.

Im Nachhinein denken wir aber, dass es nicht um Sabotage an sich ging, sondern dass wir als Bühne für eine Inszenierung hergehalten haben und die Zielgruppe eine andere ist: Es darum ging, den filmenden Mitstreiter*innen und ihren Follower*innen auf Facebook (!) zu erzählen, man habe nun das Mikrofon „erkämpft“ und sich erfolgreich gegen das „Silencen“ gewehrt.

Das Strickmuster der Inszenierung ist simpel: „Gute Freiheitskämpfer*innen gegen böse Kolonalisator*innen.“ Diese binäre Logik trifft nicht die Situation der Demonstration, berücksichtigt nicht unsere diverse Zusammensetzung als Orga und negiert den Charakter der Demo. Hier werden im Gegenteil Herrschaftsbilder reproduziert anstatt aufgelöst. Oder anders ausgedrückt: Wir glauben, dass so das herrschende rassistische Narrativ in kriegslogischer Weise eher fortgeschrieben wird, da wir so nicht in Austausch und Auseinandersetzung kommen. Wir verstehen sehr wohl, wenn Gruppen separatistische Politikformen wählen oder wählen müssen, weil sie sich weißen (männlichen, cis-geschlechtlichen, heterosexistischen etc.) Privilegienträger*innen nicht aussetzen wollen. Wir vermuten aber, dass der ganze Hass, mit dem wir angegriffen wurden, die logische Folge einer binären Denkweise ist, die keine Zwischentöne zulässt. Die Attacken auf dem ACSD fußten – anti-emanzipatorisch – auf einer Idee von einzig richtiger Positionierung und einem Freund-Feind-Denken. Sie werden damit weder uns als diverser Gruppe noch unserem Anliegen, sich gegen Rassismus aus unseren unterschiedlichen Perspektiven heraus zu positionieren – und um diese Positionierung auch immer wieder zu ringen – gerecht. Dass wir den Kontakt mit der eskalierenden Gruppe Monate zuvor gesucht haben, aber der Austausch mit uns verweigert wurde, spricht aus unserer Sicht Bände. Wir waren nur die Projektionsfläche für ihre Inszenierung am Tag des ACSDs.

Die Bilanz: Wir zweifeln hier erst einmal eine Zusammenarbeit mit kaderhaften Organisationen mit autoritärem Selbstverständnis an. Wenn Gruppen oder Personen ein derart taktisches Verhältnis zur Demo eingehen und versuchen, sie zu funktionalisieren, dann sind sie kein Teil davon, sondern verstehen sich als Angriff auf diese. Es ist auffällig, wenn solche Leute nicht mit eigenen Inhalten und Veranstaltungen nach außen auftreten, sondern sich auf andere Veranstaltungen stürzen. Es ist bequem, die Events anderer Gruppen anzugreifen. Wer den Charakter, die politische Ausrichtung, den Konsens, unter dem wir uns versammelt haben, sabotiert, wer sich Auseinandersetzungen entzieht und uns aber weiterhin angreift, ist nicht Teil unseres Kampfes und wird es so auch nicht.

Wir wollen eine Demo für alle Queers, egal welcher Hautfarbe, welchen Passes, welcher körperlichen Befähigungen, welcher sexuellen Vorlieben, welchen (Nicht-) Glaubens, welchen Alters sie auch sind. Und die einen anarchistischen Aufbruch wünschen, einen Schritt hin in eine herrschaftsfreie Gesellschaft und um diesen auch mit allen Widersprüchen ringen wollen. So einfach ist das eigentlich.

Wir verstehen dieses Statement als Beitrag zur Diskussion. Hiermit laden wir ein zur Diskussion.

Wir verbitten uns zukünftig jede weiteren Angriffe auf unsere Strukturen. Schützt anarchistische Strukturen! Soziale Revolution statt Krieg!

Wir danken allen Teilnehmer*innen für den Zuspruch und die Unterstützung für eine anarchistische Ausrichtung des CSD in Berlin.

Eure Orgagruppe vom Anarchistischen CSD 2020 in Berlin

Webseite: https://acsd20.noblogs.org/

1 In dem Beitrag ging es um die Stigmatisierung migrantisierter Anwohner*innen durch rassistische Polizeieinsätze, Durchsuchungen und die rassistische Aufbereitung durch einige Medien wie z. B. dem RBB. Es existiert ein Zusammenspiel dieser Stigmatisierungen mit den faschistischen Attacken auf syrische und türkische Läden. Es wurde auch auf die Zusammenarbeit zwischen Faschisten und Beamten der Polizei in Neukölln hingewiesen.

2 Wir schreiben weiß hier kursiv und weisen damit auf den Konstruktionscharakter des Begriffes hin, d. h. der Begriff bezeichnet keine Hautfarbe, sondern eine ideologische Idee, eine gesellschaftlich verdeckte Struktur, an die Privilegien und ihre Aufrechterhaltung geknüpft sind. Oft wird weiß als Norm(alität) begriffen und bleibt unsichtbar bzw. unmarkiert, während alles andere und Abweichende benannt (und damit markiert) wird. Oft wird in rassismuskritischen Texten das Adjektiv „Schwarz“ groß geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich dabei um eine politische Kategorie handelt und nicht um eine Hautfarbe.

3 Die ganze Situation war anspruchsvoll und wir haben auch in der Nachbereitung viel Energie in den Versuch der Klärung der Frage gesteckt, was eigentlich alles genau passiert war. Dieser Text ist also auch das Ergebnis der Recherchen, die wir angestellt haben, um euch die zeitlich verdichteten Ereignisse etwas genauer beschreiben zu können.

4 Wir hatten ja zwei Open Mics angekündigt (die wir zeitbedingt dann ausfallen ließen, aber das haben wir erst später entschieden). Open Mics sind aber moderierte Mikrofone zu einem gemeinsamen Thema. Ein moderiertes Open Mic greift bei z. B. rassistischen, sexistischen oder anderen Äußerungen, die den Charakter der Demonstration massiv widersprechen, aktiv ein. Hier war die Idee des Open Mics offenbar gründlich falsch verstanden worden.

5 Wir hatten über Lautsprecher gesagt, dass es in dieser Straße zu rassistischen, sexistischen und faschistischen Übergriffen gekommen ist und wiederholten das auch nochmal für die Leute mit kürzerer Erinnerungsdauer.

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