Tür-Klau im Berliner Besetzerkiez? Das Geheimnis um die Haustür in der Rigaer Straße 94

Die Autonomen in der Rigaer Straße 94 in Berlin Friedrichshain haben eine neue Tür eingebaut, im Juli schon. Es ist aber nicht irgendeine gewöhnliche Tür. Sondern eine Tür mit Geschichte, mit Symbolkraft für die linke Szene. Jedenfalls für den Friedrichshainer Nordkiez in Berlin.

Es geht um Hausbesetzer, Straßenkämpfe, die Polizei und den ewigen Kampf der linken Szene gegen den Staat, gegen das Kapital, gegen neue Nachbarn, gegen Verdrängung.

Bei einigen Anwohnern einer Baugruppe in der Rigaer Straße, die sich selbst als links betrachten, landeten sogar Stahlkugeln im Kinderzimmer. Dazu auf die Hausfassade geschmierte Sprüche, die als Morddrohungen aufgefasst werden können: „Die Yuppi Scum“.

Und es geht um Gewalt gegen Polizeibeamte. Der Fall ist so kurios wie zeithistorisch interessant. Auch Polizei und Staatsanwaltschaft haben ermittelt. Der Vorwurf, dem die Ermittler über mehrere Monate nachgegangen sind: Tür-Klau von Linksextremisten im Hausbesetzerkiez.

Die Recherche zu dieser Geschichte begann im Juli 2020. Fotoarchive wurden durchforstet, bei Polizei und Justiz wurde nachgefragt. Dem Tagesspiegel wurden Informationen von Ermittlern zugespielt. Frühere und aktuelle Immobilienbesitzer und Hausverwaltungen wurden kontaktiert.

In einigen Fällen gab es eine Mauer des Schweigens – wegen der Geschichte der Tür, wegen der Lage in der Rigaer Straße, wohl auch aus Angst vor gewaltbereiten Linksextremisten. Auch der Anwalt der Hausbesetzer schwieg.

Aber von vorn: Polizisten waren am 9. Juli, ein Donnerstag, in das teilbesetzte Haus in der Rigaer Straße 94 eingerückt, Wohnungen wurden durchsucht. Ermittlungen liefen wegen Urkundenfälschung und Sozialleistungsbetrugs.

Personen aus dem Umfeld des linksextremistischen Hotspots sollen Hilfen erschlichen haben – auf Kosten der Arbeitnehmer. Oder um im Duktus zu bleiben: Auf Kosten der Arbeiter- und Dienstleistungsklasse.

Auch der Hausverwalter war bei der Razzia Ende der zweiten Juli-Woche dabei. Er fand in einer Wohnung sogar eine Falltür, die womöglich Menschen hätte töten können.

Der Hausverwalter ließ illegale Einbauten entfernen – darunter das Eingangstor und eine Stahltür, die den Vorgaben des Brandschutzes nicht entsprachen. Bis zur Durchsuchung am 9. Juli hatte das Haus jedenfalls eine andere Eingangstür, wie auf den Fotos von diesem Tag zu sehen ist.

Die Autonomen ließen es nicht auf sich sitzen, dass der Hausverwalter die Tür entfernt hatte. Sie bauten an einem Juliwochenende im Haus herum – um sich wieder verbarrikadieren zu können. Sie riefen bei Twitter dazu auf, Beton, Kies, Glas, Sand und Zement vorbeizubringen. Auch eine Tür war offensichtlich dabei. Jahrelang war diese Tür verschollen.

Die Spuren reichen weit hinein ins vergangene Jahrzehnt. Rückblick ins Jahr 2011: Am 2. Februar rückte die Polizei mit 2500 Einsatzkräften an, das Haus in der Liebigstraße 14 wurde geräumt. Es gab massive Ausschreitungen.

Die Bilanz damals: 61 verletzte Polizeibeamte, 82 Festnahmen, 22 der Festgesetzten wurden dem Haftrichter vorgeführt. Auf den Fotos von damals ist auch jene Tür zu erkennen, die heute im Eingang der Rigaer Straße 94 steht.

Am ersten Jahrestag der Räumung im Februar 2012 war die Tür verschwunden. In den Archiven findet sich ein Foto von Ende Mai 2011, auf dem die Tür in der Liebigstraße 14 noch zu sehen ist.

Einige Monate später war sie dann plötzlich fort. Spätestens seit August 2011. Ein Foto aus dieser Zeit belegt das. Dort, wo die Tür einst stand, war nur noch eine Holzbauplatte zu sehen.

Bei der Polizei wurde intern über den Fall gewitzelt, seit die Tür in der „Rigaer 94“ im Juli aufgetaucht war: Haben sich die Autonomen gegenseitig beklaut? Oder haben die Linksextremen aus dem Kiez einfach den Hausbesitzer der einst besetzten „Liebig 14“ bestohlen? Oder ist es viel profaner und die Tür lagerte in irgendeinem Keller und wurde nun wieder hervorgekramt? Oder wurde sie vom Sperrmüll gerettet?

Den Eingang in der Liebigstraße 14 gab es nach der Sanierung des Hauses nicht mehr. Heute teilen sich die Bewohner den Eingang mit den Nachbarn aus der Rigaer Straße 96, der Zugang zum einst besetzten Haus erfolgt über den Hof.

Die Symbolkraft der Tür in der „Rigaer 94“ ist jedenfalls nicht zu unterschätzen. Sie knüpft an eine bewegte Geschichte an und ist auch ein Denkmal für verlorene Kämpfe. Die Hausbesetzer und die linksautonome Szene verweisen damit – ob bewusst oder unbewusst – auf Traditionslinien, die weit zurückreichen in die bewegten Monate kurz nach der Wende.

Mitte 1990, in der wilden Nachwendezeit, wurde das Haus besetzt, wie so viele andere, die in der DDR heruntergekommen waren. Die SED setzte lieber auf neue Plattenbauten statt auf Sanierung und Erhalt der Altbauten.

Während im November 13 Häuser in der nahen Mainzer Straße geräumt wurden, sich Besetzer und Polizei Straßenschlachten lieferten, Rot-Grün zerbrach, hatten die Häuser in der Liebigstraße und in der Rigaer Straße Bestand. Sie wurden zu Symbolen der Hausbesetzerszene – und zum Hotspot gewaltbereiter Linksextremisten.

Der Tagesspiegel fragte bei der Polizei nach, was mit der Tür aus der Liebigstraße 14, die nun in der „Rigaer 94“ eingebaut wurde, geschehen sei. Auf die Frage, ob der Eigentümer Strafanzeige erstattet habe, antwortete die Pressestelle Anfang September: „Der Polizei Berlin liegt eine Strafanzeige wegen einfachem Diebstahl und Sachbeschädigung zum Nachteil des geschädigten Eigentümers vor.“

Ein Anwohner, der die Tür wiedererkannt habe, habe die Strafanzeige erstattet, teilte die Berliner Polizei dann noch mit. Beamte, die sich mit der Lage im Kiez auskennen, mit dem „Dorfplatz“ der Autonomen auf der Kreuzung Rigaer und Liebigstraße, wo im Oktober 2020 das Haus in der Liebigstraße 34 geräumt wurde, haben dann noch einmal selbst nachgeschaut und sich an die Tür erinnert.

Anlass war ein Einsatz wenige Tage nach der Durchsuchung in der „Rigaer 94“. Es war Montag, der 13. Juli. Der Hausverwalter hatte bei der Durchsuchung wenige Tage zuvor Schäden und Mängel entdeckt. Die sollten beseitigt werden, ein Bautrupp stand bereit. Wobei die Bewohner stets erfolgreich vor Gericht in Zweifel ziehen konnten, dass der Hausverwalter überhaupt eine rechtmäßige Ermächtigung hat, um tätig zu werden.

Der Eigentümer der Immobilie möchte anonym bleiben – wegen der Erfahrungen der vorherigen Besitzer. Weil sie von den Autonomen im Privaten bedroht worden sind – mit Methoden, die man sonst aus der organisierten Kriminalität kennt oder von Neonazis.

Doch der Hausverwalter, dessen Legitimation nicht einmal die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus in Zweifel zieht, auf dessen gerichtlich festgestelltes Fehlen sich Innenverwaltung und die Führung des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg aber im Nichtstun gern zurückziehen, kam nicht ins Haus.

Stattdessen verprügelte ein Mob aus der „Rigaer 94“ den Mann auf der Straße am helllichten Tag. Die Polizei machte einen Rückzieher, verfolgte die Gewalttäter nicht ins Haus hinein. Weil es eine Anweisung der Polizeipräsidentin gibt – und zwar nur für „linke Szeneobjekte“. Demnach muss ein höherer Beamter darüber entscheiden, bei längerfristig geplanten Aktionen sogar die Polizeipräsidentin Barbara Slowik selbst.

Für Treffpunkte von Islamisten oder Neonazis gibt es derlei Entscheidungsvorbehalte der Polizeiführung nicht. Wohl aber für die Szeneadressen der gewaltbereiten Linksextremisten. In Berlin nimmt der Rechtsstaat besondere Rücksicht auf sie.

Nachdem die Autonomen den Hausverwalter blutig geschlagen hatten, erkannten verantwortliche Beamte jedenfalls die Tür wieder. Jene Tür, die neun Jahr zuvor so heiß umkämpft war. Der Hausverwalter bekam Fotos vorgelegt. Beim Streetview-Dienst von Google Maps ist die Tür noch zu sehen – aber in der „Liebig 14“. Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2008.

Für die Polizei war die neue Tür in der „Rigaer 94“ so etwas wie ein Anfasser. Ein möglicher Anlass, um in das Haus einrücken zu können. Denn aus Sicht der Beamten handelte es sich bei der Tür um Diebesgut. Wäre es zum Äußersten gekommen, hätte die Staatsanwaltschaft die „Rigaer 94“ von der Polizei durchsuchen und die Tür beschlagnahmen lassen können: als Diebesgut und als Beweismittel.

Wenn es um die Tür geht, herrscht großes Schweigen

Doch der Plan ging nicht auf. Wo genau sich die Tür all die Jahre befunden hat, darüber will niemand reden. Nicht der Eigentümer, der 2011 die Räumung per Gerichtsbeschluss erwirkt hatte und von den Autonomen im Internet an den Pranger gestellt und bedroht worden war. Und auch nicht der damalige Hausverwalter.

Auch mehrere Anrufe bei der aktuellen Hausverwaltung der Liebigstraße 14 brachten nichts. Nachfragen zur Tür, Hinweise auf die Geschichte, die Symbolik – Schweigen, kein Kommentar.

Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren sang- und klanglos wieder eingestellt. Die Ermittlungen gegen Unbekannt böten keinen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, es hätte kein Tatverdächtiger ermittelt werden können.

Auch eine sogenannte Anordnung zur Durchsuchung der „Rigaer 94“ und zur Beschlagnahmung der Tür hat die Staatsanwaltschaft nicht vor Gericht beantragt. Es ist nicht einmal sicher, ob die Tür überhaupt jemals gestohlen worden ist. Die Staatsanwaltschaft spricht denn auch von einem „vermeintlichen Diebesgut“.

Da es sich auch nur um eine geringfügige Straftat handelt, reichte die Strafanzeige nicht aus. Vielmehr hätte der Eigentümer der Liebigstraße 14 zudem einen sogenannten Strafantrag stellen müssen, damit Polizei und Staatsanwaltschaft den Verdacht weiterverfolgen.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft ist der Eigentümer über die Möglichkeit informiert worden, einen Strafantrag zu stellen. Doch der verzichtete den Angaben zufolge darauf.

Damit bleibt das Rätsel vorerst ungelöst, wo sich die Tür aus dem für die linke Szene so wichtigen Hausbesetzerprojekt „Liebig 14“ all die Jahre befunden hat. Wie sie damals verschwunden ist und ob sie gestohlen worden ist. Je nach Tatzeit wäre aber auch das wohl längst verjährt.

 

Artikel von Alexander Fröhlich, Tagesspiegel-Clown

https://plus.tagesspiegel.de/berlin/tuer-klau-im-berliner-besetzerkiez-das-geheimnis-um-die-haustuer-in-der-rigaer-strasse-94-85610.html

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passiert am 01.01.2020