Das Front-Konzept der RAF: Entstehung, Widersprüche, Bezüge zu heute und Ausblick

Burkhard Garweg hat was zu Geschichte der RAF geschrieben.
https://de.indymedia.org/node/496935
Um damit eine Debatte an zu schieben, weisen wir deshalb auch auf einen älteren Artikel aus dem Gefangenen Info 440 vom März 2022 hin:

Das Front-Konzept der RAF:
Entstehung, Widersprüche, Bezüge zu heute und Ausblick

Im Mai 1982 veröffentlicht die RAF eine umfassende Darstellung ihrer politischen und strategischen Vorstellungen, mit dem Titel „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“[1].
Die Veröffentlichung wird auch als Front-Papier bezeichnet. Um zu verdeutlichen, wie dieses Papier entstanden ist, muss erst mal die Zeit um 40 Jahre zurückgedreht werden:
Es gab noch keine elektronische Medien wie Internet oder Smartphones. Es existierte noch die Sowjetunion und die Vertragsstaaten des Warschauer Pakt, die ein strategisches Gleichgewicht zum US-Imperialismus bildeten. In dieser Pattsituation konnten revolutionären Kräfte leichter agieren, als heute. Zusätzlich waren die Menschen auch noch stark vom Geist des 68-Aufbruchs geprägt, d.h. sie waren noch viel optimistischer und kämpferischer als heute und so war es damit auch logisch, dass das Papier viele ansprach!

Zum Entstehen des Frontkonzept

Spätestens Mitte der siebziger Jahre war offensichtlich, dass ein großer Teil der Gefangenen aus der RAF ermordet werden sollte: Trotz mehrerer Hungerstreiks der Gefangenen, sowie starker bundesweiter und internationaler öffentlicher und militärischer Initiativen konnte nicht verhindert werden, dass Holger Meins, Ulrike Meinhof und Katharina Hammerschmidt, die allerdings nicht der RAF angehörte, ermordet wurden. Zusätzlich wurden mehrere Kämpfer:innen aus der RAF und der Bewegung 2. Juni auf der Straße hingerichtet.
In den Isolationskerkern befanden sich viele Inhaftierte, die um 1972 in der RAF organisiert waren. In diesem Jahr verschärften die USA ihren ohnehin schon barbarischen Krieg in Vietnam, mit der systematischen Bombardierung ziviler Ziele und der Verminung der nordvietnamesischen Häfen, um – wie es ein verantwortlicher General Westmoreland formuliert – „dieses Land in die Steinzeit zurückzubomben“. Diese Angriffe wurden über einen Großrechner im europäischen US-Hauptquartier in Heidelberg koordiniert. Jahrelange, erfolglose und mit polizeilichen Mitteln zerschlagene, Proteste hatten nicht zum Ende der US-Aggression in Vietnam geführt.
Deshalb ergriff die RAF in diesem Krieg militärisch Partei: Sie griff am 11. Mai 1972 das Hauptquartier des 5. US-Korps in Frankfurt und am 24. Mai das Hauptquartier der U.S. Army in Heidelberg mit Autobomben an.
In der Erklärung des “Kommandos Petra Schelm” heißt es zur Begründung der Frankfurter Aktion:
„Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein. Sie müssen wissen, dass ihre Verbrechen am vietnamesischen Volk ihnen neue erbitterte Feinde geschaffen haben, dass es für sie keinen Platz mehr geben wird in der Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer Guerilla-Einheiten sicher sein können.“
Petra war das erste Mitglied aus der RAF, das am 15. Juli 1971 während einer Fahndung erschossen wurde.
Weiterhin führte die RAF u.a. Attacken auf die Klassenjustiz durch: auf Polizeihauptquartiere in Augsburg und München und den Bundesgerichtshof-Richter Buddenberg. Mit diesen Aktionen richtete sich die RAF gegen die Isolationsfolterbedingungen, denen die politischen Gefangenen unterworfen wurden:
„Wir verlangen von der Justiz, dass das Leben und die Gesundheit der Gefangenen nicht länger systematisch angegriffen und zerstört werden.“
Auch der Springer-Konzern in Hamburg wurde angegriffen, der für Hetze und Manipulation – auch heute – steht.
Im Sommer desselben Jahres wurde ein Großteil der RAF verhaftet: Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller, Holger Meins, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und andere.

1977

Um das Leben der noch lebenden gefangenen Genoss:innen zu retten, startete die RAF 1977 eine militärische Offensive:
Es wurden Einrichtungen und Vertreter der Klassenjustiz in der BRD angegriffen: der Ex-Nazi und Generalbundesanwalt Buback und die Gebäude der Bundesanwaltschaft, die federführend für die Repression, Folter und Vernichtung standen, um die Kriege der USA mit Unterstützung der Bundesregierung abzusichern.
Um das Ziel zu erreichen, die Gefangenen zu befreien, sollten zwei wichtige Wirtschaftsführer, Ponto und Schleyer, von der RAF entführt werden. Die Aktion zu Jürgen Ponto, dem Vorstand der Dresdner Bank, misslang allerdings.
Am 5. September 1977 entführte das „Kommando Siegfried Hausner“ den „Boss der Bosse“ Hanns Martin Schleyer. Siegfried war 1975 an der erfolglosen Besetzung der BRD-Botschaft, durch die RAF in Stockholm, beteiligt, die das Ziel hatte politische Gefangene zu befreien. Schwerverletzt starb er, wegen mangelnder medizinischer Behandlung. Das Kommando fordert die Freilassung von elf Gefangenen aus der RAF.
Schleyer hatte eine bedeutende Funktion im Faschismus ausgeübt, was von den herrschenden Medien immer verschwiegen wurde. Trotz seiner hohen Stellung für die BRD, wurde er nicht ausgetauscht, sondern von der herrschenden Klasse, wegen der Staatsräson, geopfert. Hinter dieser Entscheidung stand die BRD aber nicht alleine, sondern auch die USA und alle Staaten der NATO.
Eine Mangel ihrer Aktionen war es, dass von der RAF diese Punkte nicht umfassend politisch thematisiert wurden und sie sich fast „nur“ auf die notwendige Freilassung ihrer gefangenen Genoss:innen konzentrierten.
Während der Angriffe der Guerilla wurden 40 Menschen aus dem Widerstand inhaftiert. Die Festgenommenen waren Besucher:innen sowie Aktivist:innen zu diesen Gefangenen, Drucker:innen und Anwält:innen. Sie dienten auch als Geiseln, weil die Herrschenden die Stadtguerilla nicht zerschlagen konnten. Zusätzlich diente das zur Abschreckung der Bewegung. Das hatte zur Folge, dass die RAF mit wenigen Ausnahmen, wie z.B. den Genoss:innen im Ausland, ziemlich allein, aus einer politisch defensiven Position, kämpfte.
Generell können revolutionäre Bewegungen aber nur an Bedeutung und somit an Stärke gewinnen, wenn sie eine Verankerung in der Gesellschaft haben. Das waren die oder einige der Ursachen, der damaligen fehlenden politischen Schlagkraft.

Die antagonistische Linke stellt sich nach ’77 neu auf

Ab Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre entwickelte sich überall in Westeuropa massenhafter und militanter Widerstand, gegen die NATO-Kriegspolitik unter Führung der USA, gegen ihre Pläne zur atomaren Aufrüstung und Kriegsführung. Es verging in dieser Zeit kaum ein Tag ohne militante Aktionen, aus dem gesamten Spektrum der radikalen Linken. Dieser Widerstand kommt zusammen mit einer Radikalisierung des Anti-AKW-Widerstandes und einer großen Welle von Rebellion, die sich u.a. in Hausbesetzungen in vielen Städten, wie in Berlin, Zürich, Amsterdam, Rom, Madrid, Athen, Paris … ausdrückte.
Das „Kommando Andreas Baader“ der RAF erklärte, anlässlich des Angriffs auf den NATO-Oberbefehlshaber General Haig im Sommer 1979, zu der neuen Situation:
„was sich verändert hat seit der politischen und militärischen niederlage der vereinigten staaten in vietnam ist, daß ihre aggressivität zugenommen, statt abgenommen hat. ist, daß die völker der welt mit einer neuen amerikanischen offensive konfrontiert sind, die gleichzeitig einen qualitativen sprung markiert in der entwicklung des kräfteverhältnisses zwischen revolution und konterrevolution. (…)“.[2] Auch gab es weitere bewaffnete revolutionäre Organisationen in der BRD, Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Belgien und Portugal, die ihre Aktionen gegen die Strategen und Infrastruktureinrichtungen der NATO richteten.
Am 31.08.1981 griff das RAF „Kommando Sigurd Debus“ (Sigurd kam aus einer bewaffneten Gruppe, er wurde im Knast ermordet, weil er im Hungerstreik für die Zusammenlegung mit Gefangenen aus RAF 1981 kämpfte) das Hauptquartier der U.S. Air Force für Europa in Ramstein an:
„die us-imperialisten werden ihre weltbeherrschungspläne nicht in ruhe vorbereiten und ausführen können.
sie wollen den krieg.
sie wollen die geschichte zurückdrehen hinter die offensive der befreiungsbewegungen, die ihre politische und militärische macht weltweit zurückgedrängt hat. der hebel dazu soll sein, das militärische gleichgewicht zwischen den sozialistischen und den imperialistischen staaten umzuwerfen. (…)
wer gegen den imperialistischen krieg kämpfen will, muss für die zerstörung des imperialistischen systems kämpfen.“ [3] Zwei Wochen später greift die RAF mit dem Kommando Gudrun Ensslin den Oberkommandierenden der U.S. Army und des NATO-Abschnitts Europa Mitte, General Kroesen an. In der Erklärung ruft die RAF zum gemeinsamen Kampf von Widerstand und Guerilla in Westeuropa auf.

Front-Konzept

Das Papier hat neben der Analyse der Situation des imperialistischen Status Quos vor allem zwei weitere Ebenen, in denen einerseits konkrete Vorschläge zum gemeinsamen Kampf der revolutionären Linken der BRD gemacht werden – also wie die antiimperialistische Front im eigenen Land gestärkt werden soll – und andererseits wie eine Zusammenarbeit mit anderen Kämpfenden international aussehen könnte. In ihren Aktionen zielt die RAF in den Folgejahren auf die aktuellen „strategischen Pfeiler der imperialistischen Politik“.
Am 18.12.1984 scheiterte eine Attacke der RAF des Kommandos Jan-Carl Raspe auf die NATO-Offiziersschule in Oberammergau.
Anfang Januar 1985 erschien ein gemeinsamer Text von RAF und der französischen Action Directe, in dem sie zum Aufbau der westeuropäische Front aufrufen und gemeinsame Offensiven ankündigen. In dem Text, der mit „FÜR DIE EINHEIT DER REVOLUTIONÄRE IN WESTEUROPA„ überschrieben ist, heißt es:
„(…) die angriffe gegen die multinationalen strukturen der nato, gegen ihre basen und stategen, gegen ihre pläne und propaganda waren die erste große mobilisierung für die strategiebildung proletarischer politik in westeuropa unter veränderten politischen bedingungen. eine mobilisierung, die sich als kampf gegen das system aus ausbeutung und krieg weiterentwickelt und verstärkt, wie sich an den angriffen in portugal, belgien, spanien, griechenland, frankreich, der brd, … zeigt.
authentische revolutionäre strategie in westeuropa wird sich im angriff gegen die zentralen imperialistischen projekte entfalten –
kollektivität und kohärenz der kämpfenden aus ihren besonderen bedingungen und möglichkeiten.
einheit,die in der zerstörung der imperialistischen strukturen den raum erobert, in dem sich proletarisches bewußtsein und macht entwickeln.(…)“ [4] Am 25.01.1985 tötet das „Kommando Elisabeth van Dyck“ der französischen „Action Directe“ (AD) den Waffenexportchef im französischen Außenministerium, General Réné Audran. Elisabeth war Teil der RAF und wurde 1979 beim Betreten einer Wohnung erschossen.
Am 01.02.1985 wird der Vorstandsvorsitzende der Motoren- und Turbinen Union (MTU), Ernst Zimmermann, in seinem Haus bei München erschossen. Ausgeführt von einem “Kommando Patsy O’Hara“ der RAF. Patsy O’Hara war ein Gefangener aus der INLA (Irish National Liberation Armysh, dt.: Irische Nationale Befreiungsarmee), der 1981 im Hungerstreik, um den politischen Status in Nordirland, starb. Er schickte 1981 auch eine Solidaritätsadresse an die hungerstreikenden Gefangenen aus der RAF.
Im August 1985 führte ein gemeinsames „Kommando George Jackson“ von RAF und AD einen Angriff, auf den US-Luftstützpunkt am Frankfurter Flughafen – die Rhein Main Air Base – durch, welche eine „Drehscheibe für Kriege in der Dritten Welt“ ist. George Jackson politisierte sich im Knast und wurde als Mitglied der Black Panther 1971 im San-Quentin-Gefängnis ermordet.
Auf einen Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes zielt der nächste Angriff der RAF. Am 09.07.1986 sprengt das RAF-„Kommando Mara Cagol“ das Siemens Vorstandsmitglied Karl-Heinz Beckurts in die Luft. Beckurts war einer der einflussreichsten Industriemanager und Atomphysiker in der BRD. Er war ein entschiedener Verfechter der Atomenergie, der Verzicht auf diese – so Beckurts – käme der „Selbstverstümmelung einer Industrienation“ gleich. Mara Cagol wurde 1975 als Mitglied der Roten Brigaden (Italien) von den Bullen erschossen.
Ein Vierteljahr später, am 10. Oktober 1986, wird der Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, Gerold von Braunmühl, vor seiner Villa erschossen. Braunmühl, so das RAF-„Kommando Ingrid Schubert“, habe mit Regierungsvertretern anderer westeuropäischer Staaten „die sicherheitspolitischen Linien für die europäische NATO-Säule“ erarbeitet, „um die politisch-militärische Macht Westeuropas und so der NATO insgesamt zu stärken“[5]. Ingrid war Mitglied der RAF und wurde im November 1977 im Knast ermordet.
Parallel zu den Angriffen der RAF in der BRD, führt die Action Directe mehrere Aktionen mit der gleichen politischen Stoßrichtung in Frankreich durch, u.a. gegen Rüstungskonzerne und den Sitz von Interpol. Am 17. November 1986 wird Renault-Chef George Besse erschossen.
„Кämpfende Einheiten“ des revolutionären Widerstandes in der BRD verübten 1985/86 zahlreiche militante Angriffe, u.a. gegen die militärische Infrastruktur der NATO, Rüstungsbetriebe und das Bundesamt für Verfassungsschutz. In den Erklärungen rufen die Militanten zur Organisierung der revolutionären Front in Westeuropa auf.
Im September 1988 erscheint ein gemeinsamer Text der RAF und der italienischen BR/PCC, (Brigate Rosse-Partito Comunista Combattente, dt.: Rote Brigaden – Kämpfende Kommunistische Partei) in welchem sie gemeinsame Offensiven ankündigen. Ein großer Repressionsschlag gegen die italienischen Genoss:innen verhinderte allerdings, dass die geplanten Aktionen durchgeführt wurden.
Am 20. September 1988 beschießt das RAF-„Kommando Khaled Aker“ den Dienstwagen des Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium, Hans Tietmeyer. Die RAF wirft Tietmeyer vor, als BRD-Delegierter beim bevorstehenden Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in West-Berlin, verantwortlich zu sein für die „imperialistische Politik der Vernichtung“ gegen die abhängigen Länder im Süden. Er betreibe eine Politik, „die für die Mehrheit der Menschen Tod und Elend bedeutet, um dem internationalen Kapital Profit und Macht zu sichern“[6]. Khaled Aker war Mitglied der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas), der 1987 im Kampf gegen Israel fiel.

Die Rolle des Widerstands in der Front

Es ist nichts Neues und Überraschendes, dass die herrschende Geschichtsschreibung die Frontperiode diffamiert und kriminalisiert. Linke Medien hingegen ignorieren diese Phase oder reduzieren sie oft nur auf die Aktionen der RAF. Ein weißer Fleck also in unsere Widerstandsgeschichte und wir wollen versuchen einen anderen Blick auf diese Zeit zu werfen.
Das Papier „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ wurde nach seinem Erscheinen vor 40 Jahren breit verteilt und öffentlich diskutiert. Nicht nur von „unseren“ kämpfenden Zusammenhängen, sondern auch in radikal-demokratischen und humanistischen Kreisen. Das hatte zu Folge, dass der Text von Anfang an stark kriminalisiert wurde. Es wurde somit versucht, eine notwendige Diskussionen zu unterbinden.
Eine weitere wichtige Passage dieses Textes, die später oft unterging, nicht nur auf militante Aktivitäten zu setzen, sondern auch auf öffentliche „legale“ politische Initiativen. Das Konzept war eben nicht nur auf den bewaffneten Kampf beschränkt. Die Front war folglich ein politisch-militärischer Prozess.
Viele Debatten dazu wurden öffentlich in Zentren, wie Infoläden und in besetzten Häuser, geführt. Zusätzlich gab es Bücher und Zeitschriften, die diese Auseinandersetzungen komplettierten.
Im Jahr 1986 kam es dann zu einem internationalen Kongress in Frankfurt am Main: „Antiimperialistischer und Antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa“. Dort trafen sich viele unterschiedliche Gruppen aus dem In- und Ausland (Baskenland, Spanien, Palästina, Italien, Portugal, Lateinamerika), welche gemeinsam in der Front zusammen kommen und diese weiterentwickeln wollten. Anwesend waren ehemalige Gefangene, Menschen aus dem Widerstand, Angehörige von und Solidaritätsgruppen zu den Gefangenen sowie Anwält:innen. Es ging um einen Austausch über die verschiedenen Bedingungen der Kämpfe, vor allem der Gefangenen. Es war der Versuch international und öffentlich das Mai-Konzept politisch zu diskutieren.
Das waren auch Ansatzpunkte für die Bullen und Geheimdienste, da zu intervenieren. So haben sie kontrolliert, wer sich in diesem Rahmen engagierte, wer den Gefangenen schrieb, sie besuchte und ihre Prozesse aufsuchte, wer organisierte Veranstaltungen und so weiter. Ebenso wurden Bücher wie „das info“, herausgegeben von dem Rechtsanwalt Bakker-Shut, Zeitschriften wie „Radikal“ oder „Knispelkrant“ kriminalisiert, beschlagnahmt und verboten.
Die „Begründung“ der Behörden war, wer sich mit diesem politisch Kontext befasst, der macht auch militante Aktionen und hat Kontakt zur Guerilla und stärkt somit diesen Zusammenhang. Es wurde das Engagement für die isolierten Gefangenen aus der RAF als „RAF-Tätigkeit“ durch den § 129a (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) verfolgt. Alle Tätigkeiten wurden folglich einer politisch-militärischen Organisation wie der RAF zugeordnet.
Das ist heute bei den § 129b-Verfahren (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland) nicht anders: Alle öffentlichen Aktivitäten werden der PKK oder der DHKP-C zugeordnet.
Repressionsmäßig gab es Durchsuchungen, hohe Haftstrafen für Demodelikte und Solidaritätsaktionen bzw. Kontakte zu Gefangenen und der Guerilla wurden mit bis zu 10 Jahren Knast geahndet. Das betraf Genoss:innen, die sich in den Zusammenhang der Front stellten. Teilweise waren über 40 Leute aus unbewaffneten Zusammenhängen im Knast.
Die Front hatte eine große Anziehungskraft für viele, die kämpften. Teil der Front waren nicht nur anti-imperialistische, sondern auch sozialrevolutionäre oder autonome Zusammenhänge, wie z.B. Teile der Anti-AKW-Bewegung und der Revolutionären Zellen (RZ). Auch diese Genoss:innen stellten sich mit eigenen Initiativen und militanten Aktionen in diesen Zusammenhang.
Hinzu kamen Solidaritätsaktionen anderer Guerillakräfte, wie z.B. aus Spanien und Belgien, die nicht Teil der Front waren, sowie eine Vielzahl militanter Aktionen aus unterschiedlichen Spektren. Der Bezugspunkt war nicht nur auf den Gefangenen in der BRD, sondern auf allen revolutionären Gefangenen weltweit, mit dem Ziel auch ihre Situation zu verbessern. Denn grundsätzliche Änderungen konnten nicht erkämpft werden, da all die Kräfte nicht ausreichten, um die Konterrevolution zurück zu drängen.
Die Stärke der Front bestand folglich aus Initiativen aus ganz unterschiedlichen Spektren.
Die Front endete mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa Ende der 80er und der damit verbundenen Krise der Befreiungsbewegungen, europa- und weltweit. Übrig blieben die imperialistischen Staaten, mit der USA an der Spitze.
Der organisatorische und politische Ansatz, hier in Westeuropa einzugreifen, hier die imperialistischen Projekte zu knacken, somit für den Kommunismus zu kämpfen, dieses Konzept und diese politischen Initiativen wurden im Grunde genommen mehr oder minder eingestellt.

Widersprüche im Frontprozess

Spätestens mit der Aktion der RAF im Sommer 1985, gegen die Airbase in Frankfurt, bei welcher der US-Soldat Primental getötet wurde, um mit seiner ID-Karte in die Airbase reinzukommen, kam es zu massiver Kritik an der RAF, von vielen radikalen Linken.
Am Anfang dachten viele, dass das eine Bullenaktion – also vom Geheimdienst sei. Dann hat die Guerilla eine Erklärung, erst 2-3 Wochen später, nachgeschoben, weil sie mitbekommen hatten, dass es da starke Irritationen und viele Fragen zu dieser Aktion gab. Es war eine komplizierte Diskussion. Es meldeten sich die, die die RAF schon immer Scheiße fanden und es meldeten sich ernsthafte und aufrechte Genoss:innen, die fragten, ob die Erschießung des GI angemessen war. Für alle Aktivist:innen wurde deutlich, dass die objektive Situation und der Druck sehr zugespitzt war. Sei es bei den Gefangenen, in den Ländern des Süden und in den Ländern des Norden usw.
Die Antwort darauf war im Nachhinein zu militärisch. Nach Primental gab es zwar noch politische Initiativen und Kämpfe, aber auch die antiimperialistische Bewegung konzentrierte sich mehr auf militante Aktionen und vernachlässigte zunehmend den politischen Rahmen.
Es gab 1986, neben zwei Aktionen der RAF, noch sehr viele militante Aktionen der „kämpfenden Einheiten“. Der Punkt ist aber gewesen, dass diese Aktionen kaum noch politischen Widerhall in der Linken fanden. Es wurde zu sehr auf die militärische Karte gesetzt und die politische Verankerung vernachlässigt.
Nach der Zeit 1986/87 gab es dann 1988 noch die Aktion der Guerilla gegen Tietmeyer, anlässlich des IWF-Gipfels in Berlin. Damals gab es noch eine starke linksradikale Mobilisierung und die Gegenseite ließ sogar verlautbaren, dass so ein Gipfel in Berlin nicht noch einmal durchführbar ist. Da gab es also noch eine gewisse Stärke der antiimperialistischen und autonomen Bewegung. Das zerfiel dann auch in der Zeit der Umbrüche.
Der im Mai-Papier gegebene Zusammenhalt von politischen und militärischen Initiativen drückte sich immer weniger praktisch und auch im Alltagsleben aus.
Wie äußerte sich das?
Bündnisse wurden zunehmend dogmatisch und unbeweglich gehandhabt, abstrakt, wurde praxislos an einer „reinen“ 100% Linie festgehalten. Es wurden militanten Aktionen glorifiziert und andere Tätigkeiten dabei abgewertet und heruntergespielt. Es machte sich bei manchen ein schlechtes Gewissen breit, weil mensch den revolutionären Ideal/Bild nicht entsprach.
Die Zusammenlegungsforderung der Gefangenen aus RAF und dem Widerstand wurde nicht mehr öffentlich propagierte, weil es angeblich zu heiß und zu und gefährlich sei, um andere Aktionen dadurch nicht zu gefährden. Das mischte sich mit der realen Angst und Gefahr vor Kriminalisierung.
Diese Fragen und Zweifel hatten viele, aber anstatt darüber zu sprechen, wurde das ausgeklammert und so verstärkte sich die Vereinzelung und schwächte den subjektiven wie objektiven Kampfprozess.
So ebbten die Aktivitäten der antiimperialistischen Bewegung langsam ab. Dieser Zustand hätte verhindert werden können, wenn es eine solidarische kollektive Diskussion gegeben hätte: Was waren Stärken und Schwächen der vorangegangenen Phase?
Eine lange Zeit wurde die Front von vielen total hochgehalten, danach niedergemacht. Diese Extreme machten eine politische Weiterentwicklung unmöglich.
Hinzu kam, dass sich die objektiven Bedingungen verschärften, also der Zusammenbruch der Staaten je Realsozialismus und Krise der Befreiungsbewegungen einerseits, andererseits Massenarbeitslosigkeit, Aufschwung rassistischer und faschistischer Denkweisen und Strukturen hier, Explosion der Armut im Trikont und imperialistische Kriege.
Da wären revolutionäre Antworten nötig gewesen. Weder die RAF noch die gesamte Bewegung konnten darauf angemessen reagieren. Diese Nichtaufarbeitung verfolgt uns heute noch in unseren politischen Prozessen.
Die direkten Folgen daraus waren, dass sich die Gefangenen und die RAF spalteten, die Bewegung massiv zerfiel, sich immer mehr Menschen aus ihr zurückzogen und 1998 erfolgte die endgültige Auflösung der RAF.

Parallelen von heute zu Front

Obwohl die Frontzeit bis heute nicht aufgearbeitet worden ist, haben sich Zusammenhänge auf diese Periode bzw. auf die bewaffneten Gruppen bezogen. Sei es die MG (Militante Gruppe) oder die RAZ (Revolutionäre Aktionszellen) und die RL (Revolutionäre Linke) zum Beispiel. Bei der RAZ, die anti-imperialistische und sozialrevolutionäre Positionen vertraten, kommt das auch in den Namen ihrer Kommandos zum Ausdruck: Wie Gudrun Ensslin für die RAF, Georg von Rauch von der Bewegung 2. Juni oder Mara Cagol von den Roten Brigaden.
Im Mai-Konzept der RAF ging es auch um die Bündelung, also eine Front, von unterschiedlichen politischen und militanten Gruppen und Initiativen. Auch hier gibt es Parallelen zur RAZ und der RL, die auch eine Bündelung von militanten Gruppen anstrebten.

Ausblick

Das Frontpapier erschien vor bald 40 Jahren, im Mai 1982. Gisel Dutzi, ehemalige Militante aus der RAF, stellte im Kurdistan Report 217 fest: „Es gibt immer noch sehr wenig Authentisches aus dieser Zeit, den 1980er Jahren, gemessen an dem, was an Bewegung damals stattfand“. Sie bezog sich konkret auf das Buch „Briefwechsel Christa Eckes, Hüseyin Çelebi“. Gisel ist eine der drei Herausgeber:innen des Buches. Zu der Relevanz dieser Zeit meinte sie: „Sich dessen bewusst zu sein ist notwendig, weil es der Boden ist, auf dem wir stehen. Es stärkt uns heute“. Dem können wir nur beipflichten!
Unser Papier ist als Anregung gedacht, für weitere Diskussionen: Vieles ist evtl. zu ausführlich, anders ist zu kurz angesprochen worden. Es ist hoffentlich ein Anfang für eine notwendige und weiterführende Debatte!

Redaktion

Literatur:
„Die Rote Armee Fraktion: Eine kurze Einführung in die Geschichte der RAF“
Interview über die Rote Armee Fraktion, nur digital: https://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-brd/4322-interview-ueber-die-rote-armee-fraktion
Briefwechsel: Christa Eckes, Hüseyin Çelebi April 1988, Edition Cimarron
Briefwechsel zwischen Christa Eckes und Hüseyin Çelebi, Die Geschichtsschreibung nicht den Herrschenden überlassen, Interview mit Gisela Dutzi in Kurdistan Report 217 | September / Oktober 2021
„RAZ-RL-radikal- Komplex“, Gefangenen Info Ausgabe 439
Gespräch mit Irmgard Möller: RAF – Das war für uns Befreiung
Buch mit Briefen von Ingrid Schubert, Edition Cimarron

Webseiten:
Hinweis: Alle im Text benannten Erklärung sowie die Erklärungen zu benannten Aktionen sind auf der Webseite https://socialhistoryportal.org/raf/ dokumentiert und können in Deutscher, z.T. auch in Englischer oder Französischer Sprache nachgelesen werden. Solltet ihr Interesse an den Originaltexten, aber keinen Zugang zum Internet haben, wendet euch gerne an uns (die Redaktion).
[1] „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“, Rote Armee Fraktion, Mai 1982, https://socialhistoryportal.org/raf/5919
[2] Erklärung Kommando Andreas Baader am 25.06.1979 zu Haig, https://socialhistoryportal.org/raf/5786
[3] Erklärung Kommando Sigurd Debus am 31.8.1981 zum Headquarters US-Airforce Ramstein https://socialhistoryportal.org/raf/5904
[4] Action Directe und Rote Armee Fraktion, Für die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa, Januar 1985, https://socialhistoryportal.org/raf/5950
[5] Erklärung Kommando Ingrid Schubert am 10.10.1986 zu Braunmühl, https://socialhistoryportal.org/raf/6002
[6] Erklärung Kommando Khaled Aker am 20.09.1988 zu Tietmeyer, https://socialhistoryportal.org/raf/6019

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