Rochaden in Nahost

Bekämpfe den Feind dort, wo er nicht ist (Sun Tzu)

Nach der Aktion der militärischen Flügel von Hamas, Islamischer Jiad in Palästina und PFLP am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet Israels zum Gaza Streifen, die zum direkten Tod von über 1100 Menschen, davon ⅔ Zivilisten führte ( von denen Dutzende Arbeitsmigranten aus anderen Ländern waren), sowie zur Verschleppung von 250 Geiseln, darunter Kindern und Holocoust Überlebende, schien unmittelbar die Frage auf, was die strategische Option dieser Operation war. Denn es war sofort klar, dass der israelische Staat, dessen so hoch gelobten Geheimdiensten die Katastrophe nicht haben kommen sehen, die Präsenz der Hamas im Gaza Streifen praktisch vollständig auslöschen würde, egal wie hoch auch immer die Kosten dafür politisch, menschlich und moralisch sein würde. Ebenso bedeutete die Operation für die Führungsriege der Hamas (unabhängig ob politische oder militärische Ebene) ein potentielles Todesurteil, von dem nur noch nicht bekannt war, wann es vollstreckt werden würde. Denn die Israelis hatten nicht nur bei der jahrelangen Jagd nach den Verantwortlichen für den Angriff auf die israelische Sportlerdelegation von München 1972 gezeigt, wozu sie fähig sind.

Was war also die strategische Option für diese Operation, deren Federführung bei der Hamas lag, und deren militärische Kommandoebene diese Operation nicht ohne Abstimmung mit der politischen Führung im Exil sowie der Garantiemacht Iran durchführen konnte? In Hintergrundgesprächen nach dem 7.Oktober mit wichtigen Hamas Führern benutzen diese das Bild eines umgestürzten Schachspiels. Doch was genau ist damit gemeint?

Die „palästinensische Frage” befindet sich in einer völlig festgefahrenen Situation. Die “2-Staaten-Lösung” (die unter den gegenwärtigen Umständen weder für die Hamas noch den Iran ein Option darstellte) ist seit Jahren eingefroren, der “Bruderkrieg” in Gaza gegen die Fatah konnte zwar 2007 innerhalb von nur 4 Tagen gewonnen werden, in den von der Fatah, bzw. der “palästinensischen Autonomiebehörde” kontrollierten Gebieten des Westjordanland verfügte die Hamas bis zum 7. Oktober aber nur über eine sehr begrenzte politische Basis und war militärisch nahezu unbedeutend.

Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation im Gaza Streifen, der allgegenwärtigen Korruption und Misswirtschaft, die nur noch von der Misswirtschaft und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde übertroffen wird, bröckelte auch die Unterstützung für die Hamas bei der Bevölkerung im Gaza Streifen, seit Jahren kommt es immer wieder zu sozialen Protesten und Unruhen, die von der Hamas teilweise mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Auch steht die Hamas ebenso wie die Fatah vor dem grundsätzlichen Dilemma, das sich keine palästinensische Bourgeoisie etablieren kann, im Gaza Streifen wird der größte Teile des BIP im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialsektor erzielt, der eh eher unbedeutende gewerbliche Sektor liegt seit dem 7.Oktober praktisch komplett brach, ebenso entfallen die Einkünfte durch Beschäftigungsverhältnisse in Israel, was teilweise nach dem 7. Oktober auch für das Westjordanland gilt. In Gaza leben 40 % der palästinensischen Bevölkerung (jenseits der Mio im Exil), dennoch lag der Anteil am BIP 2002 (also vor dem 7. Oktober) bei nur ca 15% und ist nach dem 7. Oktober auf nur noch 3% geschrumpft.

Auch jenseits der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des Krieges nach dem 7. Oktober, um wieder auf das grundsätzliche Problem zurückzukommen, existiert kein wirkliches umfangreiches palästinensisches Kapital, wenn man von Subunternehmen für israelische Unternehmen, kleinen Klitschen, meist im Familienbesitz, kleineren landwirtschaftlichen Betriebe, sowie einige Bereiche wie Textilverarbeitung absieht. Versuche strategischer Neuorientierung wie die Schaffung von Industrieparks für den Export im Westjordanland als auch in Gaza, blieben sehr limitiert. Weit mehr als ein Drittel aller Einkünfte werden durch die direkte Beschäftigung von Palästinensern in Israel selbst erzielt, hinzu kommt das fast ein Drittel der Einkünfte sich aus Transferzahlungen aus dem Ausland generieren, zu denen noch die Gelder und Güter aus den zahlreichen Hilfsprogrammen kommen.

Unfähig einen palästinensischen Staat real kreieren zu können ohne natinonales Kapital (ein Dilemma, dass der völlig unmaterialistischen weltweiten “Free – Pelestine – Bewegung zumindestens ein sekundenschlagartiges Innehalten abringen könnte), militarisch dauerhaft in einer defensiven Dauerschleife gefangen ( aus der nur der Guerillia Krieg in einem besetzten Territorium Erlösung verspräche, der aber gerade durch die brachiale und umfassende Offensive der israelischen Armee in Gaza real ad absurdum geführt wird), politisch begrenzt durch die strategische Ausrichtung auf und Abhängigkeit vom Iran, ist die Führung der Hamas offensichtlich zu dem Schluß gekomnen, das Schachbrett umzustoßen.

Wenn nur ein begrenzter Umfang an Zugoptionen zur Verfügung steht, die auch noch fast alle vom Gegner antizipiert, bzw. vereitelt werden können, dann fällt nun die Wahl darauf, die Begrenzungen des Spielbretts zu verlassen, auch wenn das gleichzeitig das Ende der Organisation Hamas bedeutet, wie sie vor dem 7. Oktober bestanden hat.

Wie bereits oben angedeutet, ist der Entschluss für die Operation am 7. Oktober nicht allein in der Führungsebene der Hamas gefallen. Diese strategische Ausrichtung wurde von der völligen Unterstützung der Teheraner Führung mitgetragen, die, wenn auch in anderen Dimensionen, vor ähnlichen Problemen wie die Hamas Führung steht.

Eine galoppierende Inflation, die trotz Erhöhung der Erdölexporte bei mittlerweile über 40% liegt, durch Korruption und Mehrausgaben für die Rüstung, einer gescheiterten Industrialisierung und den Folgen der Sanktionsmaßnahmen liegt das BIP pro Kopf mittlerweile nur noch auf der Hälfte des Niveau des Jahres 1990. Als Folgen kommt es immer wieder zu Unruhen und Streiks, besonders im strategisch wichtigen Bereich der Erdölförderung-und Verarbeitung, der landesweite Aufstand nach der Ermordung von Jina Amini konnte erst nach Monaten blutig niedergeschlagen werden, wobei es in einigen Provinzen zu bewaffneten Guerillia Aktionen kam, und das Regime erstmalig nicht in der Lage war, wirklich wiederholt massenhaft Menschen für die Unterstützung des Regimes auf die Straße zu bringen. Hinzu kommt die Unfähigkeit unter der Bedrohung durch Israel und die USA zu einer Atommacht aufzusteigen, was den Iran erst zu einer wirklichen Großmacht in der Region machen würde (Im ersten Golfkrieg konnte der Iran gegen den wesentlich bevölkerungsärmeren Irak nur um den Preis unglaublicher Verluste [Schätzungen gehen von mindestens einer Viertelmillion Toten auf iranischer Seite aus] bestehen.

Der Iran beschloss also ‘All in’ zu gehen um im Gefolge der Auswirkungen des auf den 7. Oktober folgenden Krieges die Karten in der gesamten Region neu zu mischen. Wie die Ereignisse der letzten 12 Monate gezeigt haben, hat der Iran sich dabei deutlich verspekuliert.

Jeder Angriff muss mit einem Verteidigen enden (Carl von Clausewitz)

Während Israel nach dem 7. Oktober durch die allgemeine Mobilisierung mit einer Streitmacht von fast einer halben Millionen Frauen und Männer in den Krieg zog, konnten die Hamas und ihre Verbündeten in Gaza um die 40.000 Männer aufbieten. Die Schlacht um Gaza nahm dann den von allen erwarteten Verlauf. In den letzten 12 Monaten wurden Zehntausende Zivilisten in Gaza getötet, die Hamas und ihre Alliierten dürften fast die Hälfte ihrer Kämpfer verloren haben. Dazu kommen zahlreiche Verluste unter dem Führungspersonal der Hamas, darunter etliche hochrangige Kommandeure, die teils gezielt ausgeschaltet wurden.

Unmittelbar nach dem 7. Oktober kam es zu Angriffen der Hisbollah auf den Norden Israels (vorwiegend mit Raketen und Drohnen), die mit Gegenschlägen beantwortet wurden. Zehntausende Israelis mussten den Norden Israels verlassen. In diesem “Krieg der niedrigen Intensität” wurden bis Ende 2023 um die 100 Hisbollah-Kämpfer getötet, die israelischen Verluste lagen sehr weit darunter. 2024 nahm die israelische Armee sowohl führende Funktionäre der Hisbollah ins Visier als auch sich im Libanon aufhaltende hochrangige Hamas Angehörige, als erstes erwischte es den stellvertretenden Vorsitzenden des Politbüros der Hamas in Beirut.

Ebenfalls kurz nach dem 7. Oktober begangen die Houthi Milizen im Jemen mit Angriffen auf die Handelsschifffahrt in der Region sowie Angriffen mit Raketen und Drohnen auf Israel. Diese konnten jedoch fast alle abgefangen werden oder gingen in unbewohntem Gebiet nieder. Nach mehreren Angriffen aus der Luft und von Schiffen mit Lenkwaffen durch Nato Staaten auf Houthi Stellungen scheinen die Angriffsoptionen der Houthis allerdings schon stark eingeengt zu sein.

Während der Iran also versuchte sein Blatt kontrolliert und unter dem verlustreichen Einsatz seiner Alliierten auszuspielen, scheint Israel in enger Abstimmung mit den USA und unter (mindestens) Billigung arabischer Länder wie Jordanien und Saudi Arabien entschlossen, ebenfalls ‘All in’ zu gehen, allerdings mit einem wesentlichen höheren Einsatz, um die politische Landschaft im Nahen Osten ebenfalls nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten. Nachdem Israel schon im Dezember 2023 einen General der iranischen Revolutionsgarden, der als Berater tätig war, in der Nähe von Damaskus bei einem Luftschlag tötete, griff die israelische Luftwaffe am 1. April 2024 ein Nebengebäude der iranischen Botschaft in Damaskus an, wobei mehrere hochrangige iranische Offiziere und Kommandeure der Revolutionsgarden getötet wurden, darunter ein Brigadegeneral. Der folgende Vergeltungsschlag des Iran hielt nicht annähernd das Niveau der verbalen Drohungen und Verwünschungen der Teheraner Führungsspitze. Am 13. April 2024 wurden um die 300 Raketen und Drohnen in Richtung Israel gestartet, fast alle wurden in einer koordinierten Aktion von Israel, Frankreich, GB, den USA und Jordanien abgefangen, lediglich ein Mensch wurde in Israel durch eine abgestürzte Rakete verletzt.

Unterbreche niemals deinen Feind, wenn er einen Fehler macht (Napoleon Bonaparte)

Dem Iran war es bis dahin nicht gelungen, propagandistisch erfolgversprechenden Operationen auch wirkliche militärische oder politische Erfolge folgen zu lassen, wenn man von UN Resolutionen oder Massendemos im Westen oder arabischen Ländern absieht, die aber schon in den letzten Jahrzehnten keinerlei Einfluss auf das reale Kräfteverhältnis im Nahen Osten genommen haben. Die Verwundbarkeit des Irans für Luftschläge des Westen und Israels wurde der Teheraner Führung noch einmal am 19. April 2024 in Erinnerung gerufen, als in der Nähe des iranischen Kernreaktors bei Isfahan ein israelischer Angriff auf eine iranische Militäreinrichtung erfolgte. Der nächste Schachzug des Iran konnte daher nur eine Intensivierung des Konflikts an der israelischen Nordgrenze durch die Hisbollah sein, während zeitgleich Israel die „Hamas für in Gaza besiegt erklärte”, man habe es nur noch “mit Resten zu tun”, die man “weiter bekämpfen werde”. Diese wiederum erklärt in Gestalt ihres Unterhändlers Khalil al-Hayya in Istanbul, die Hamas sei nun doch zur eigenen Entwaffnung und einer 2- Staaten Lösung bereit, allerdings mit einem palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967.

Im Laufe des Sommers 2024 spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und Israel folgerichtig auch zu. Immer wieder ortet das israelische Militär hochrangige Hisbollah Angehörige und schaltet diese mittels Luftschlägen aus. So am 3. Juli, woraufhin am nächsten Tag die Hisbollah Israel mit über 200 Raketen an einem Tag angreift. Als am 27. Juli bei einem Raketeneinschlag in einem von Drusen bewohnten Ort 12 Menschen auf einem Fussballplatz sterben, die meisten davon Kinder, hat die israelische Regierung ihr Fanal, dass sie auch von dem Druck der Straße in Israel selbst entlastet, wo immer wieder Zehntausende, teilweise Hunderttausende gegen die Fortsetzung des Krieges und für die Befreiung der verschleppten israelischen Geisels durch Verhandlungen mit der Hamas demonstrieren. Am 30. Juli wird erneut ein hoher Hisbollah-Kommandeur bei einem Luftschlag ausgeschaltet, er soll den Angriff auf das drusische Dorf verantwortet haben.

Der folgende Coup führte dann den Iran vollends vor. Der politische Führer der Hamas, I. Haniyya, wird während seines Aufenthalts in Teheran am 30. Juli im Gästehaus der iranischen Revolutionsgarden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Kommandoaktion des Mossads getötet.

Alle folgenden Versuche der Hisbollah und des Irans, wieder das Heft des Handels in die Hand zu bekommen, scheitern allerdings. Im August und September kommt es immer wieder zu gezielten Tötungen von hochrangigen Kommandanten der Hisbollah im Libanon, hunderte von Raketenstellungen werden ausgeschaltet, bevor von dort aus Angriffe auf Israel gestartet werden können. Inmitten der absoluten Defensive der Hisbollah werden dann am 17. und 18. September tausende präparierte Pager und andere Kommunikationsgeräte der Hisbollah per Fernzündung zur Explosion gebracht, die Miliz verliert große Teile ihrer Kommandostruktur durch schwere Verletzungen und tote Mitglieder ihrer Miliz. Inmitten dieses Chaos fliegt die israelische Luftwaffe ab dem 20. September schwere Luftangriffe auf Ziele in Beirut und im Süden des Libanon, erneut werden viele hochrangige Kommandeure der Hisbollah getötet. Am 27. September schließlich erfolgt ein Luftschlag auf ein HQ der Miliz in Beirut, der Angriff gilt dem Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, der bei diesem Luftschlag getötet wurde.

Die gesamte Offensivfähigkeit der Hisbollah, die aufgrund ihres Bestandes von über 100.00 Raketen als wesentlich größere Gefahr für Israel als die Hamas beschrieben wurde, scheint innerhalb weniger Tage zumindestens vorübergehend völlig ausgeschaltet zu sein. Die Hamas hat sich, in Absprache mit der Teheraner Führung, dafür entschieden, das Schachbrett umzustoßen. Die Neuordnung der Region wird nun Realität, allerdings zu anderen Konditionen, als von Teheran beabsichtigt. Das Spiel ist erst vorbei, wenn der König fällt, das stimmt. Aber der Iran und seine Proxies haben beide Türme eingebüßt und auch die Dame steht zur Disposition.

Doch wo sich nach einem Jahr ein mögliches Ende des Krieges am Horizont abzeichnet, wird auch wieder der Horizont der sozialen Revolution sichtbar. Die inneren Widersprüche werden explodieren. In Israel selbst, wo es nur eine Frage der Zeit ist, bis die rechte Regierung zum Teufel gejagt wird, ebenso wie im Iran, wo der nächste Anlauf auf der Tagesordnung steht, die Mullahs zum Teufel zu jagen. In der gesamten arabischen Welt, wo die sozialen Widersprüche, der Hunger nach Freiheit, der 2010ff aufgebrochen ist, von einer neuen Generation von Wütenden auf die Tagesordnung gesetzt werden wird. Die Tendenz zum Krieg ist der weltweiten Verwertungskrise, der allgegenwärtigen Krise der Governance (mitsamt ihren Regionalkriegen) ebenso eingeschrieben wie die Reife zur vorrevolutionären Situation.

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