Eine Frau unter Vermummten

Zum ersten Mal seit Jahren ermittelt der Generalbundesanwalt gegen eine linksextreme Gruppe. Stimmt es, dass eine Studentin sie angeführt hat?

Sie habe versteckt gelebt, klandestin nennt es die Generalbundesanwaltschaft. Ihr Nachname, E., steht zwar bis heute am Klingelschild in einem Mehrfamilienhaus in Leipzig-Connewitz. Aber gemeldet war sie dort nicht. Auch die Miete ging nicht von ihrem Konto ab, genauso wenig das Geld für die Stromrechnung. In ihrem Wohnzimmer fanden Ermittler mehrere Handys, doch kein Telefonvertrag lief auf ihren Namen. Sie hatte nur ein kleines Einkommen, und trotzdem trug sie mehrfach große Mengen Bargeld mit sich herum.

Die Frau ist ein wandelndes Geheimnis.

Am 5. November wurde Lina E. von Beamten des sächsischen Landeskriminalamtes aus ihrer Wohnung abgeführt. Seither sitzt sie, eine 25 Jahre alte Studentin der Erziehungswissenschaft, in Untersuchungshaft. Sie ist die erste Linksextremistin seit Jahren, gegen die der Generalbundesanwalt vorgeht. Eine schlanke, fast zierliche Frau, die angebliche oder tatsächliche Rechtsextremisten überfallen haben soll, darunter auch Kampfsportler. Das einzige weibliche Mitglied einer zehnköpfigen, gut organisierten und – so steht es im Haftbefehl – eingespielten Gruppe. Die ZEIT konnte Akten einsehen, mit Menschen sprechen, die Einblick in die Ermittlungen haben, und mit anderen, die Lina E. kennen. Es ergibt sich das Bild einer entschiedenen Aktivistin, deren genaue Rolle in der gewaltbereiten autonomen Szene noch unklar ist. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass Lina E. eine Symbolfigur werden könnte: für die Ermittler, die endlich Erfolge präsentieren wollen im Kampf gegen den Linksextremismus. Aber auch für die linksextreme Szene selbst. Denn diese rief zu Demos auf, forderte Solidarität. Lina sei das Opfer einer Staatsmacht, die es nun erst recht zu bekämpfen gelte.

Doch sollte sich der Verdacht erhärten, dann war sie die Anführerin einer linksextremen kriminellen Vereinigung, die sich laut Ermittlern im Grenzbereich zum Terrorismus bewegte. Die Vorwürfe, die die Generalbundesanwaltschaft gegen Lina E. und neun Männer aus Leipzig, Berlin und Weimar erhebt, lauten unter anderen: Bildung einer kriminellen Vereinigung, gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch, räuberischer Diebstahl. Lina E. sitzt als Einzige in Haft, weil ein Haftrichter am Bundesgerichtshof es bei ihr für „überwiegend wahrscheinlich“ hält, dass sie sich der Strafverfolgung entziehe. Ihr Freund, auch mutmaßliches Mitglied der „Gruppe E.“, ist bereits untergetaucht.

Mindestens vier schwere Gewalttaten soll die Gruppe begangen, dabei zwölf Menschen verletzt haben, eine Person sogar lebensbedrohlich. Die Serie der Straftaten, die im Rückblick der Gruppe E. zugeordnet werden, beginnt am 8. Januar 2019. Damals wird in Leipzig-Connewitz ein Bauarbeiter am helllichten Tag von fünf Vermummten überfallen. Die Angreifer, so rekonstruieren es die Ermittler, halten ein Adler-Emblem an der Mütze des Bauarbeiters für ein rechtsextremes Symbol. Der Mann kommt mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Dass diese Tat auf die Gruppe E. zurückzuführen sei, soll sich erst deutlich später aus abgehörten Gesprächen ergeben haben. War Lina E. selbst anwesend? Zeugen berichten, dass sie bei dem Überfall eine vermummte Frau gesehen hätten, die mit Pfefferspray hantiert habe.

Dann, gut ein halbes Jahr später, der nächste Übergriff: Am 19. November 2019 um 0.15 Uhr stürmen zehn bis 15 Vermummte in den Gasthof Bull’s Eye in Eisenach, der von dem überregional bekannten Rechtsextremisten Leon Ringl betrieben wird. Innerhalb von zwei Minuten, so schildert es Ringl im Gespräch mit der ZEIT, habe die Gruppe seine Kneipe überfallen, Fensterscheiben zerschlagen. Aus dem Haftbefehl geht hervor, dass die Täter mit Schlagstöcken bewaffnet waren. Auch Lina E. soll dabei gewesen sein. Mit einem „großen Reizstoffsprühgerät“ habe sie den Raum vernebelt. Am Ende habe sie das Kommando zum Verlassen des Tatorts gegeben.

Es ist ein scheinbar harmloser Vorfall, der die Polizei zwei Monate später zum ersten Mal auf die Spur von Lina E. bringt: Sie begeht einen geradezu kuriosen Fehler. Mit einer Tasche spaziert sie in einen Obi-Baumarkt, klaut zwei Hämmer im Wert von 37,98 Euro. Ein Sicherheitsmann bemerkt das und spricht Lina E. an. Daraufhin versetzt sie ihm nach Ansicht der Ermittler mit beiden Händen einen Stoß in den Bauch, rennt weg, aber der Sicherheitsmann holt sie ein. Lina E. ist nun polizeibekannt.

Obwohl der Diebstahl gescheitert ist, bricht sie am nächsten Tag – so der Stand der Ermittlungen – mit mindestens sechs weiteren Mitgliedern ihrer Gruppe zum nächsten Überfall auf. Wieder ist Leon Ringl, der Rechtsextremist aus Eisenach, ihr Ziel. Stundenlang harren die Linksextremen vor seinem Wohnhaus aus. Als Ringl um 3.15 Uhr von drei Freunden im Auto heimgebracht wird, greift die Gruppe E. mit Stangen, Schlagstöcken, einem Hammer und einem Radschlüssel an. So wird es im Haftbefehl rekonstruiert. Wieder soll Lina E. das Kommando gegeben und Pfefferspray versprüht haben. Weil Leon Ringl sich aber selbst mit einem solchen Spray bewaffnet hat und mit einem Teppichmesser droht, wenden sich die Linksextremen schließlich seinen Freunden zu. Sie hämmern auf deren Auto ein. Die Männer erleiden unter anderem Kopfplatzwunden und Prellungen.

Dieses Mal gelingt es alarmierten Streifenpolizisten, in der Nähe des Tatorts zwei Autos zu stoppen. Darin: Mitglieder der Gruppe E. Lina E.s Golf, der auf den Namen ihrer Mutter angemeldet ist, ist zwar mit gestohlenen Kennzeichen versehen, doch die tatsächlichen Nummernschilder liegen auf der Rückbank, ebenso Tierabwehrspray und Handschuhe mit Schlagprotektoren.

Danach wird die Gruppe vom Landeskriminalamt observiert. Am Auto eines der mutmaßlichen Gruppenmitglieder platzieren die Ermittler einen GPS-Sender und eine Wanze. Sie können jetzt die Gespräche im Innern des Autos aufnehmen und der Gruppe beim Planen zuhören.

Am 3. Juni 2020 soll Lina E. gemeinsam mit einem ihrer Mitstreiter das nächste Opfer ins Visier genommen haben: einen Studenten aus Leipzig, der als rechtsextremer Kampfsportler bekannt ist. Er war, ebenso wie über 200 weitere Neonazis, im Jahr 2016 randalierend durch den linken Leipziger Stadtteil Connewitz gestürmt. Lina E. kundschaftet den Mann nun offenbar aus. Um nicht aufzufallen, wechselt sie ihr Outfit, setzt mal eine Brille auf und mal eine blonde Perücke. Doch die Polizei beobachtet sie. Kurz darauf stürmen Beamte ihre Wohnung. Der mutmaßlich geplante Angriff auf den Kampfsportler wird so verhindert.

Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung finden die Ermittler griffbereit an der Wohnzimmertür unterschiedlichfarbige Beutel, darin Perücken, Mützen und Gummihämmer genauso wie diverse Handys und noch verpackte SIM-Karten.

Wie genau sich Lina E. radikalisierte, wissen die Ermittler noch nicht. Sie selbst hat keine Aussage gemacht. Ihr Anwalt will sich auf ZEITAnfrage nicht inhaltlich zu den Vorwürfen äußern.

War sie tatsächlich die Anführerin, hatte sie eine „herausgehobene Stellung innerhalb der Vereinigung“, wie es in der Pressemitteilung zu dem Fall heißt? Die Bundesanwaltschaft argumentiert, Lina E. habe bei zwei Überfällen das Kommando geführt, ihr Auto zur Verfügung gestellt und sich maßgeblich an der Auswahl künftiger Opfer beteiligt. Einige der Ermittler gehen aber eher davon aus, dass die Gruppe E. ohne feste Hierarchie funktionierte. Eine klare Rangordnung, sagen Experten, passe eigentlich auch kaum zur modernen linksextremistischen Szene.

Derzeit ermitteln im Fall Lina E. mehr als zwei Dutzend Beamte. Auch weil für möglich gehalten wird, dass die Gruppe in noch mehr Taten verwickelt ist. Da war zum Beispiel ein Vorfall im Juni 2019. Damals wurde einem Mitglied der Identitären Bewegung mitten in einer Leipziger Hochschule von Unbekannten die Nase gebrochen. Die Angreifer seien junge Kerle gewesen, schilderte das Opfer. Und „ein Mädel“, das sei auch dabei gewesen.

Quelle: https://www.zeit.de/2020/49/linksextremismus-ermittlungen-polizei-lina-e-ueberfall

passiert am 28.11.20