Mord an Mouhamed Lamine Dramé, wie gehts weiter nach der Demo vom 12. August?

Die Demonstration in Dortmund zum Jahrestag der Ermordung von Mouhamed belegte eindrucksvoll, dass es eine Basis gibt um diesen Mord durch die Polizei nicht dem Vergessen zu überlassen; im Gegensatz zu den unzähligen weiteren Fällen. Was bei den meisten Toten durch staatliches Handeln selten gelingt, ist vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed vollbracht worden. Nämlich ein Jahr nach den Schüssen aus einer Maschinenpistole, eine Menge zu versammeln die Aufklärung, Gerechtigkeit und teilweise auch Vergeltung forderte.

Die Demonstration wurde nicht von weißen Linksradikalen dominiert, sondern ist über die Szenegrenzen hinaus verankert. Teilnehmende liefen trotz starkem Regen nicht auseinander und es wurde sich über eine Auflage der Versammlungsbehörde hinweggesetzt, nicht vor der berüchtigten Nordwache stehen zu bleiben. Der Weg durch die Fußgängerzone und Haupteinkausfsmeile Dortmunds wurde zu einer erfolgreichen militanten Propaganda gegen die Polizei und damit auch gegen den Staat, ohne das etwas randaliert wurde, (was durchaus möglich gewesen wäre). Aus den skandierten Parolen sprach klar der Hass auf die Polizei und dem zum Schutz der Mordwache abgestellten Kontingent riefen Hunderte entgegen: „Wir kriegen euch alle!“
Von dieser Artikulation der Demonstrierenden und den verbreiteten Texten des Solidaritätskreises ausgehend, ergeben sich mehrere Fragen.

* Wenn Gerechtigkeit gefordert wird, – von wem erwarten wir diese bzw. an wen richtet sich die Forderung?

Es dürfte klar sein, dass der deutsche Staat, genauso wenig wie andere Staaten, weder Interesse hat noch vom Wesen her in der Lage ist, Gerechtigkeit zu schaffen. Das hat dieser Staat, der zum Zweck seiner Existenzsicherung verschiedene bewaffnete Organisationen unterhält, eindrucksvoll durch unablässiges Töten bewiesen. Daraus ergibt sich, dass eigentlich nur diejenigen, die in dem staatlich kontrollierten Gebiet leben, für sich selbst Gerechtigkeit schaffen können.

* Von wem erhoffen wir uns die Aufklärung der Ereignisse in einem Hinterhof der Nordstadt?

Der Ruf nach Aufklärung ist verständlich, schließlich ist es nicht nachvollziehbar, warum ein Haufen schwer bewaffneter Beamt*innen ihr ganzes Arsenal einsetzt, um einen Jugendlichen zu ermorden, der zuvor noch nicht einmal gegen eines ihrer Gesetze verstoßen hat. Leider hat die bewundernswerte Oury Jalloh Initiative belegt, dass der Staat und seine Polizei und Justiz, alles dran setzen werden um jede noch so unglaubwürdige Lüge für immer als ihre historische Wahrheit festzuschreiben. Wir hingegen müssten selbst für diese Aufklärung sorgen, es gibt keinen anderen Adressaten.

* An wen richten sich die vorgebrachten Appelle zur Scham?

Erneut haben Stadt Dortmund und Polizei glaubhaft bewiesen, dass sie keine moralischen Grenzen kennen. Weder um das von ihnen beanspruchte Gewaltmonopol durchzusetzen, noch um den daraus entstandenen Verletzungen einen humanitären Anstrich zu verpassen. Polizist*innen schämen sich nicht für etwas, was der einzige Grund ihrer Existenz ist: Gewalt ausüben. Und auch ihre Auftraggeber in Politik und Verwaltung schämen sich nicht für etwas, für das sie jedes Mittel bereit stellen: die Aufrechterhaltung des Status Quo. Die Scham kann lediglich bei uns liegen, die wir nicht auf jeden staatlichen Mord angemessen reagieren, sondern uns in den meisten Fällen dran gewöhnt haben.

* Abolish the police, wie es einige Demonstrant*innen gefordert haben, ist eine mögliche Lösung für das Problem. Doch auch hier, – an wen richtet sich diese Forderung bzw. welche konkreten Schritte sollen dafür unternommen werden?

Selbst in den wenigen Momenten des Untergangs einer Regierungsform; als sich der Deutsche Kaiser verpisste, als die Wehrmacht kapitulierte oder als sich die DDR selbst abschaffte, war die Gesellschaft fähig oder stark genug es einmal ohne Polizei zu versuchen. Abolish the police, wenn es mehr bedeuten soll als eine Theorie, bedeutet einen Zusammenstoß mit Staat und Gesellschaft.

Vergeltung und Selbstverteidigung

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed hat in dem kurzen Zeitfenster nach dem Mord einen wichtigen Schritt getan, um Vergessen und Gewöhnung zu verhindern. Wenn nicht unmittelbar nach einem staatlichen Mord begonnen wird Gegenöffentlichkeit herzustellen, ist es dafür zu spät. Wir finden uns also jetzt in der sozialen Basis wieder, die den Mord an Mouhamed nicht einfach hinnehmen kann. Der Solidaritätskreis hat zudem erfolgreich den Versuch abgewehrt, das Gedenken parteipolitisch zu vereinnahmen.
Mit der Dortmunder Nordstadt ist ein Gebiet zum Schauplatz geworden, dass seit langem Ziel einer rassistischen Hetze durch Medien und Politik ist. Hier werden neue Instrumente der Repression ausprobiert, wie z.B. die Videoüberwachung der Münsterstraße und Null-Toleranz Konzepte der Polizei. Diese Nachbarschaft ist kaum noch zu gentrifizieren weil viele Weiße und Besserverdienende die Nordstadt aufgrund der Pressekampagnen seit Jahren verlassen haben (gut so, ihr Trottel!). Ein Kiez wie geschaffen für den Widerstand im sozialen Krieg, ein internationales Subproletariat in nicht mehr ganz so frischen Häusern und Straßen voller Barrikadenmaterial.

Indes blieb die Reaktion aus nach dem Mord an Mouhamed, die wir in Frankreich nach dem Tod von Nahel oder George Floyd und anderen Schwarzen in den USA, als angemessene Antwort registrieren. In Deutschland explodiert keine Wut auf den Straßen, wenn die Polizei hier Schwarze, Weiße, Frauen, Jugendliche, psychisch Kranke, Einbrecher, Autofahrer, … erschießt, erschlägt, verbrennt, vergewaltigt, mit Pfefferspray oder Brechmittel tötet, lagebedingt erstickt …

Was kommt nach der Demonstration vom 12. August in Dortmund? Nach einer Gerichtsentscheidung, nach dem nächsten Mord durch die Polizei?
Irgendwann muss doch der Moment gekommen sein, in dem wir uns in unseren Nachbarschaften verteidigen und für die unendliche Liste staatlicher Morde Vergeltung üben. Vergessen wir erstmal die linke oder linksradikale Szene, sie hat während der Maßnahmen gegen Covid bewiesen, dass sie von Angst und „Vernunft“ gesteuert wird. Angst und „Vernunft“ sind schlechte Ratgeber wenn wir mit Gewalt konfrontiert sind. Die Angst, dass es noch schlimmer kommt wenn wir zurückschlagen. Die „Vernunft“, die flüstert, dass wir der Polizei nichts entgegenzusetzen haben. Hier liegt der Unterschied zu der sozialen Basis, in der Nahel oder George Floyd getroffen wurden. Der Unterschied zwischen Zuschauer*innen und Beteiligten, die sich mit den Ermordeten identifizieren.

Wir haben keine Identität, keine nationalistische (zum Glück), kein Klassenbewusstsein, weder Clanmentalität noch familiäre Identität, keine nachbarschaftliche Verbundenheit. Wir sind vereinzelte Individuen. Nur wenn wir diese Position aufgeben, können wir uns so sehr als Betroffene eines Angriffs auf eine Klasse oder eine Community identifizieren, dass Angst und „Vernunft“ überwunden werden.

In Berichten aus Frankreich nach den jüngsten Unruhen, heißt es, die Beteiligten an den Auseinandersetzungen haben kein Verlangen nach Mediation. Ein weiteres Problem, wenn wir die Reaktionen in Deutschland genau betrachten, ist der Wunsch nach Mediation. Der Mord an Mouhamed kann als Ausdruck des ungebrochen kolonialen Verständnisses deutscher Behörden verstanden werden. So selbstverständlich wie die BRD weiterhin andere Kontinente ausplündert, als Müllhalde und Absatzmarkt für die eigene Industrie missbraucht, so selbstverständlich löschen deutsche Beamt*innen Menschenleben aus, weil Migrant*innen aus ihrer Sicht in Europa einfach nichts zu suchen haben. Aus diesem Denkmuster vom Herrschenden und den Beherrschten entwickelte Frankreich 2017 das berüchtigte Gesetz, welches der Polizei das Recht gibt Schusswaffen einzusetzen, wenn eine Person die Zusammenarbeit mit ihr verweigert. Darin liegt vermutlich auch das Motiv des Bullen in Dortmund, der den Abzug der Maschinenpistole gegen Mouhamed drückte.

Malcom X bezeichnete die Gewaltfreiheit von Martin Luther King als beste Waffe der Weißen, Im Zuge des Auftauchens der Black Panther in den USA, wurde die Gewaltfreiheit als Selbstaufopferung benannt, die drei Ziele verfolge: die moralische Überlegenheit der Schwarzen, weil die Polizeigewalt nicht legitim und inakzeptabel ist; das politische Versagen des Staates weil die Gewalt gegen Schwarze illegal ist; psychologisch werde durch die Gewaltfreiheit der Schwarzen, die Polizeigewalt selbst in den Augen der Täter nicht mehr akzeptabel. Sechzig Jahre und einige Tausend Tote später wissen wir, nur die Selbstverteidigung der Angegriffenen erhöht die Chance des eigenen Überlebens.

Der Widerstand im Abzug einer Schusswaffe, der eine versehentliche Schussabgabe verhindern soll, lässt sich weder politisch noch juristisch oder moralisch erhöhen. Einzig die Angst des Bullen vor den Konsequenzen erhöht diesen Abzugswiderstand. Der Staat sichert seinen Beamt*innen vollständige Immunität zu. Mithin liegt es an uns dem Bullen eine Angst vor Konsequenzen zu vermitteln.

 

»The System is Rotten to the Core« Pressemitteilung zur Demonstration am 12.08.2023

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passiert am 12.08.2023