Es bleibt kompliziert!
Weil die Debatte zu rechtspopulistischen Anti-Maßnahmen-Protesten und einen adäquaten Umgang mit dem pandemischen Ausnahmezustand in verschiedenene Städten unterschiedlich fortgeschritten sind, hier ein einzelner lokaler Beitrag aus Jena zur Dokumentation und Inspiration.
1) Die Situation bleibt kompliziert – Aber wo sehen wir hin?
Die Pandemie belastet alle von uns, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Sie ist keine Naturkatastrophe, sondern in ihrer Ausprägung bzw. in ihren drastischen Auswirkungen ein Produkt der schnelllebigen staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Naturzerstörung und Massentierhaltung fördern die Übertragung von Viren, wöchentliche Flugreisen der Reichen und die Transportwege für die globalisierte Weltwirtschaft ihre rasche Verbreitung. Privilegierte soziale Klassen und reiche Nationalstaaten, die über die entsprechenden Ressourcen verfügen, können die Auswirkungen der Pandemie abmildern. Je ärmer die Menschen sind, je prekärer sie leben und arbeiten müssen, desto weniger können sie ihre Gesundheit schützen. Dies betrifft oftmals insbesondere Menschen, die rassistisch diskriminiert oder aus anderen Gründen gesellschaftlich ausgeschlossen werden. Es betrifft auch arme alte Menschen. Deswegen gilt es diesen umfassenden und schweren Umständen gemeinsam und solidarisch zu begegnen, als auch eine grundlegende Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung zu formulieren.
2) Rechtspopulististische Proteste gegen Maßnahmen zur Pandemie-Regulierung
Die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung der Pandemie wurden maßgeblich von rechtspopulistischen und faschistischen Akteur*innen übernommen. Doch auch vor diesem Punkt (der schon länger als ein Jahr her ist), waren die Proteste von einem bürgerlichen Freiheitsverständnis geprägt, welches auf Egoismus und Konkurrenz gegründet ist. Verschwörungsmytholog*innen fühlten sich in ihrer Paranoia bestätigt und konnten ihren Wahnsinn weit verbreiten. Zahlreiche, um ihren Status besorgte Angehörige der Mittelklasse erfahren zum ersten Mal, dass ihre Privilegien, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhen, nicht selbstverständlich sind.
Rechtspopulist*innen und Faschist*innen nutzten die Gelegenheit, um die Proteste instrumentell zu übernehmen, wobei sie deutlich gezeigt haben, dass ihnen Menschenleben völlig egal sind, wenn sie politische Kapital generieren und ihre menschenverachtende Hetze verbreiten können. Die Bullen haben es ihnen von Anfang an leicht gemacht. Aber auch das mediale Framing, dass jede Kritik an den teilweise völlig widersprüchlichen staatlichen Maßnahmen, als „Leugnung“ von Corona dargestellt wird. Ob esoterische Hippies, Globoli-Fresser, „besorgte“ Eltern oder wütende Mittelständler – diesen Leuten brauchen wir unter ihren Bedingungen nicht zuzuhören. Weil es ihnen nicht um Argumente geht. Wem wir aber zuhören sollten, sind die vielen Menschen, die unter den Auswirkungen von Pandemie und den Folgen ihrer Regulierung leiden. Sicherlich sind viele von uns auch darunter.
3) Die antifaschistischen Reflexe
Auf erschreckende Weise haben die Reaktionen breiter Teile der gesellschaftlichen Linken ihre Staatsgläubigkeit und Strategielosigkeit offenbart. Unter dem Label des ursprünglich anti-staatlichen, in der Arbeiter*innen-Bewegung entstandenen, Begriffs der „Solidarität“ haben Regierungen linke Akteur*innen für ihre Agenda gebraucht. Dazu haben sie Menschen aus verletzbaren Gruppen in Geiselhaft zur Durchsetzung ihrer Maßnahmen genommen. Kampagnen wie „Zero Covid“ verdeutlichen die völlige Verkennung der eigenen Machtbasis. Sie beinhalten überdies ein irrationales Vertrauen auf die Neutralität staatlichen Handelns, wie auch den falschen Glauben an die Umsetzbarkeit einer demokratischen Politik, wenn nur die richtigen Leute am Ruder wären. Dass gegen Rechtspopulismus, Verschwörungsmythologie, Antisemitismus und pure Arschlochmäßigkeit Gegenprotest organisiert wurde und wird, ist gut und richtig. Impfen schützt Leben und ist ein wesentlicher Bestandteil zur Beendigung (dieser) Pandemie.
Die vermeintlich klare Abgrenzung gegen „die da“, geht aber schon lange nicht mehr auf. Die antifaschistische Reaktion, wie sie in den Gegenprotesten gegen Querdenker*innen und Co. zum Ausdruck kam, ist keine Strategie, weil sie in vielerlei Hinsicht einen bloßen Reflex und kein selbstbestimmtes Handeln darstellt. Das ist nachvollziehbar. Doch da die treibende Kraft dahinter Angst und nicht die Vision für eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform ist, kann daraus keine gesellschaftskritische und emanzipatorische Perspektive gewonnen werden. Wir sollten nicht wollen, dass „alles wieder normal“ wird. Wir sollten anstreben und dafür kämpfen, dass die Verhältnisse grundlegend andere werden.
4) Kritik am staatlichen Hygienemanagement
Die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung der Pandemie waren unzulänglich, oftmals halbherzig umgesetzt und widersprüchlich. Und das in einem Zeitalter, wo es Konferenzen, Pläne und Trainings für Katastropheneinsätze gibt. Wo seit Jahrzehnten bekannt war, dass es zu einer neuartigen Pandemie kommen kann. Das ist Staatsversagen auf ganzer Linie. Doch staatlichen Akteur*innen zu empfehlen, wie sie es besser machen können, sollte nicht unsere Aufgabe sein. Vielmehr wäre es an der Zeit, dass Selbstvertrauen zu entwickeln, dass wir es selbst – angefangen bei uns – besser machen können. Selbstorganisierte Initiativen und kommunale Selbstorganisation in allen Teilen der Welt haben deutlich gemacht, dass Millionen Menschen willens und in der Lage sind, kollektiv und solidarisch zu ihrem gemeinsamen Wohl und Schutz zu handeln. Sie werden gezwungen, dies unter miserablen Bedingungen zu tun, aber trotzdem tun sie das – meistens durch viele unsichtbar gemachte Verhaltensweisen und Organisationsprozesse im Alltag.
Doch das staatliche Hygienemanagement hat noch ganz andere Facetten: Während der Pandemie stiegen die Vermögen der Milliardäre um 3,6 Billionen Euro, während viele hundert Millionen Menschen weltweit in extreme Armut gefallen sind. Im Jahr 2021 besitzen 10% der Weltbevölkerung 76% des weltweiten Vermögens, während die 50% der Armen, lediglich über 2% verfügt. Diese extreme und weiter zunehmende Ungleichheit ist das Ergebnis des organisierten Klassenkampfes von oben, deren Katalysator Krisen jeder Art sind. Durch die Corona-Pandemie werden weltweit mehr Menschen verhungern, als an Corona sterben. Und mehr Menschen in höchst prekäre Lebensverhältnisse abrutschen, als einen schweren Verlauf der Krankheit zu erleiden.
Schlimm genug, aber die Pandemie ist nun mal da. Wie kann sie mit rationalen Mittel und unter beschissenen Ausgangsbedingungen so sozial verträglich wie möglich beendet werden? Der medizinische Fortschritt ist eine echte, ungeheuer wertvolle, zivilisatorische Errungenschaft, die wir als Ausgangsbasis für ein gutes Leben für alle ansehen sollten. Ebenso sind es moderne, rationale Weltbilder, die die Grundlage für eine sozialistische Vorstellung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, Selbstbestimmung und vielfältige Lebensformen darstellen. Aber: Paradoxerweise kann Wissenschaft selbst zu einem Problem werden, wenn sie in „Wissenschaftsgläubigkeit“ mündet. Daher ist auch die Bezeichnung „Corona-Leugner*innen“ völliger Quatsch. Denn wenn gefährliche und bisher unbehandelbare Infektionskrankheiten eine Tatsache sind, stellt sich nicht die Frage, ob ich daran „glaube“ oder nicht. Aber wenn wir nur an eine vermeintlich einzige wissenschaftliche Interpretation von Geschehnissen „glauben“, geben wir den Anspruch auf, demokratisch über den Umgang mit ihnen zu verhandeln. So wird die Wissenschaft in den Dienst des Regierens (im weiten Sinne) gestellt – und dient damit zur Legitimationsbasis des technokratischen post-demokratischen Regimes unter dem wir leben. Das Argument des „Wissenschaftlichkeit“ dient zur Erweiterung des staatlichen Autoritarismus.
5) Eine sozial-revolutinäre Perspektive auf den pandemischen Ausnahmezustand
Meckern und herum interpretieren ist das eine. Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es aber für emanzipatorische Akteur*innen unter den dargestellten Bedingungen? Hier einige Ansatzpunkte, die schon bekannt sind und zumindest von einigen Gruppen schon praktiziert werden:
Wir sollten uns mit unseren eigenen Ängsten und Hoffnungen auseinandersetzen. Statt bloß Impulsen und Reflexen nachzugehen, gilt es – ausgehend von unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen – zu angemessenem und reflektiertem Handeln zu finden.
Wir sollten uns in verbindlichen Bezugsgruppen zusammenschließen, in denen wir uns im Alltag unterstützen, umeinander kümmern, miteinander diskutieren, streiten und gemeinsame Kämpfe führen.
Wir sollten uns nicht am rechtspopulistisch gelenkten Volksmob orientieren, in der falschen Annahme, dass es bei diesem noch etwas für emanzipatorische Politik zu gewinnen gäbe. Aber wir sollten den Sorgen, Ängste und den Abfuck von vielen Menschen ernst nehmen, die unter der Pandemie auf ganz verschiedene Weisen leiden.
Wir sollten Klassengesellschaft und Kapitalismus, staatlichen Autoritarismus, ökologische Zerstörung und Patriarchat in ihren konkreten Funktionsweisen und Auswirkungen verstehen, thematisieren, gegen sie vorgehen und Alternativen zu diesen Herrschaftsverhältnissen entwickeln.
Wir sollten auf all jene schauen, die besonders von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind – und deren Stimmen im lauten Getöse des gewaltsamen Diskurses unhörbar gemacht werden. Das sind Geflüchtete, Proletarier*innen, vielfach diskriminierte und ausgeschlossen Menschen, sowie Personen, die psychisch-emotional struggeln.
Wir sollten auf Strukturen der Selbstorganisation jenseits von linken Szeneblasen setzen und uns dort wo wir stehen, mit Anderen gemein machen, zusammenschließen und gegenseitig unterstützen. Nicht als paternalistische Wohltätigkeit oder pseudo-staatliche Sozialarbeit, sondern in unserem Alltagsleben und auf Augenhöhe.
Wir brauchen nicht die bestehende Gesellschaftsordnung zu verteidigen, deren Produkt die Pandemie ist und die sie nur chaotisch und asozial zu regulieren im Stande ist. Stattdessen gilt es, mit vielen Menschen eine Vision zu spinnen, wie unser aller Leben grundlegend und langfristig besser werden kann. Denn der Wahnsinn, den wir erleben, ist vor allem Ausdruck des Wahnsinns im Normalbetriebs einer desaströsen Gesamtverfassung.