[LE] Der 23.10. in Leipzig, Versuch einer Reflektion
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Am 23. Oktober 2021 hätte eine große Demo in Leipzig stattfinden sollen. Mit einem deutschlandweiten Aufruf hatten viele Strukturen, Gruppen und Einzelpersonen den Aufruf unterstützt und sich organisiert, um für diesen Tag nach Leipzig zu kommen. Auch wir als Interkiezionale sahen den Aufruf der Leipziger Genoss*Innen positiv, da wir einen Mangel an gemeinsamen Momenten sehen, in denen Menschen aus ganz Deutschland zusammenkommen um Wissen und Meinungen austauschen zu können. Raum und Zeit für Austausch und Vernetzung zu schaffen, sollte aber eine unserer Prioritäten sein. Der Tag in Leipzig hätten als Ausgangspunkt für die autonome, anarchistische, antiautoritäre Bewegung hierzulande dienen können, um nicht als Reaktion auf einen bestimmten Angriff, sondern als unseren eigenen Kampftag zusammenzukommen. Nach dem Verbot der Demonstration waren wir eine der Strukturen, die noch dazu aufriefen, nach Leipzig zu fahren.
Da wir diesen kollektiven Moment als wichtig für die Bewegung erachten, das Verbot unserer Demonstrationen und die Möglichkeiten, dagegen zu kämpfen, für uns ein zentrales Thema ist, und wir durch den Aufruf zur Demonstration und gegen das Verbot Verantwortung übernahmen, haben wir uns entschlossen, einen Reflexionstext darüber zu schreiben, in der Hoffnung, weitere Diskussionsbeiträge anzustoßen, welche hoffentlich die Diskussionen verbinden, die sicherlich auf Stadt-, Szene- oder Gruppenebene stattfinden.
Demonstrationen als ein Moment des kollektiven Kampfes
Demonstrationen sind immer eines unserer wichtigsten politischen Instrumente. Neben Propaganda, Gegeninformationen, direkten Aktionen und Versammlungen sind Demonstrationen Momente, die uns intern und extern helfen. Einerseits ist es ein Moment, in dem Menschen zusammenkommen, ihre Genoss*Innen treffen, Momente schaffen und gemeinsame Erfahrungen machen. Menschen fühlen sich gestärkt und die politischen Gruppen erweitern sich zu einer Bewegung. Wir kommen zusammen und zeigen Solidarität mit Menschen, die wir nicht kennen, weil sie in diesem Moment unsere nahesten Genoss*Innen sind. In diesen Momenten heißt es WIR gegen alles, was uns unterdrückt und ausbeutet. Andererseits sind Demonstrationen der Ort, an dem sich der Rest der Gesellschaft an uns wenden kann. Hier kommen unsere Ideen und Perspektiven in den öffentlichen Raum. Die Straßen werden zu einem Propagandakanal, und zumindest für eine Weile enteignen wir die Zeit und den Ort!
Für uns selbst ist die Demonstration also eines der wichtigsten politischen Instrumente. Unsere Priorität ist es, zu demonstrieren und unsere Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Wie auch immer eine Demonstration aussieht, ob sie friedlich ist oder nicht, ob sie schwarz oder bunt ist, sie ist immer einer der wichtigsten Momente unserer Bewegung, und wir sollten für sie kämpfen.
Das Verbot
Das Verbot der Demonstration am 23.10. hat genau dies gezeigt. Dass der Staat immer versucht ist zu verhindern, dass sich verschiedene Kämpfe verbinden und linksradikale Ideen öffentlich werden. Denn für den Staat ist es viel einfacher, dezentrale Aktionen, die immer wichtig und notwendig sind, zu kontrollieren oder zu verschweigen, aber es ist viel schwieriger zu verbergen, wenn viele Menschen zusammenkommen um ihre politische Haltung und Perspektive öffentlich zu teilen.
Das Verbot der Demo hat gezeigt, dass wir uns in einer Phase befinden, in der der Staat mit totalitären Erzählungen und Taktiken liebäugelt. Selbst in einer bürgerliche Demokratie offenbart ein Verbot einer angemeldeten Demonstration den autoritären Charakter dieses Staates. Das Argument, „keine friedliche Demonstration zu erwarten“, zeigt die staatliche Unterdrückungsstrategie. Auf der Grundlage von Vorhersagen, Möglichkeiten und „Prognosen“ trifft der deutsche Staat eine Entscheidung und verurteilt, bevor die Aktion überhaupt stattgefunden hat. Auf der einen Seite zeigt man die eigene „Unfähigkeit“, eine Demo zu „kontrollieren“ und auf der anderen Seite ist man in der Lage, die ganze Stadt Leipzig zu belagern.
Ein Widerspruch nach dem anderen an diesem Wochenende, in dem wir mit einer Bullenstadt konfrontiert wurden, in der Patrouillen und Kontrollpunkte das Regime repräsentieren, in dem wir leben. Ihr Ziel war es, alles unter Kontrolle zu halten, ohne dabei allzu willkürliche Kontrollen durchzuführen, die zu Konflikten und Ärger führen könnten.
Die Reaktion der Bewegung
Und jetzt kommt unser Teil. Was haben wir als Bewegung geschafft? Wo waren unsere Fehler, aus denen wir für zukünftige Kämpfe und Verbote lernen können?
Nach dem Verbot der Demo herrschte ein ohrenbetäubendes Schweigen auf unserer Seite, dagegen und darüber, wie wir uns verhalten sollten. Wir sind der Meinung, dass sich die Bewegung offener und deutlicher für die Notwendigkeit, sich gegen das Verbot zu wehren, hätte aussprechen müssen. Auf öffentlichen Gegenmedienkanälen oder intern hätten Gruppen, die vorher anriefen oder trotz des Verbots gehen wollten, Aufrufe machen können, und dies hätte in den Tagen vorher eine dynamische und kollektivere Atmosphäre schaffen können, die vielleicht mehr Leute mobilisiert hätte, sich anzuschließen oder zumindest die Leute, die sowieso gehen wollten, zu bestärken.
Das Verbot einer Demo ist nicht etwas, mit dem wir ständig konfrontiert sind, denn es ist ein Instrument, das der Staat eher selten einsetzt, und deshalb fehlt uns die Reflexion, um dagegen vorzugehen. Es gibt Beispiele aus jüngster Zeit, die wir in unserer Stadt erlebt haben und auf die sich Diskussionen stützen könnten, auch wenn uns klar ist, dass es keinen Eins-zu-Eins-Vergleich gibt und keine derartige Taktik oder Idee an jedem Ort und zu jeder Zeit mechanisch reproduziert werden kann. Das Verbot der 1. Mai-Demonstration am 2020 (1), unter dem Vorwand der Pandemie, gegen die die Orga beschloss, die Menschen trotzdem auf die Straße zu rufen, indem sie Treffpunkte rund um Kreuzberg ankündigte, die die Menschen versuchten zu erreichen, und es in vielen Fällen auch schafften, in einem Viertel, das von Tausenden von Polizisten belagert wurde. Natürlich ist der politische Hintergrund und die Geschichte der 1. Mai-Demos besonders. Das zeigte sich wohl auch daran, dass wenige Monate nach einem ähnlichen Aktionsversuch einen Tag vor dem Gerichtstermin der Liebig34, am 02.06.20, die 1. Mai-Dynamik nicht auf der Straße reproduziert werden konnte, obwohl die Idee ähnlich war (2). Gleiches gilt für die Interkiezionale Tag-X Demo für die Räumung des Syndikat am 08.07.20. Diese Demo war zwar nicht angemeldet, aber öffentlich angekündigt, die Leute schafften es zwar, sich zu versammeln, aber die Demo wurde gekesselt und die Seitenstraßen von den Bullen blockiert, so das nicht gelaufen werden konnte. Eine kritische Reflexion dieser Demo findet sich hier. (3)
Ausblick
Das Verbot der Demo kann ein Präzedenzfall für die Zukunft sein. Der Staat könnte nach den Erfahrungen der Demo in Leipzig versuchen, dies wieder durchzusetzen. Wir sind der Meinung, dass wir Wege finden sollten, um schneller über solche Repressionsschläge zu reflektieren und parallel dazu zu versuchen, dass dies möglichst inklusiv ist, also nicht auf kleinen Plenas „eingeweihter“ passiert.
Auch wenn wir es nicht geschafft haben, am 23.10. gemeinsam zu laufen, sollten wir daran denken, dass der Staat Tausende von Polizisten mobilisiert hat, um uns zu stoppen, und uns fragen, wie wir das nutzen können? Zum Beispiel, wenn wir häufiger zu bundesweiten Veranstaltungen aufrufen, kann der Staat weiterhin Verbote aussprechen und jedes mal Tausende von Polizisten schicken? Und selbst wenn das logistisch möglich ist, ist das auf politischer Ebene für den Staat vermittelbar?
Da wir Demonstrationen als eines unserer wichtigsten politischen Instrumente und Vernetzungspunkte anerkennen, sind wir der Meinung, dass wir als Interkiezionale im Vorfeld mehr hätten diskutieren sollen, um konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen und darüber hinaus als emanzipatorische Bewegung den Ort und die Zeit für diese Diskussion in Leipzig hätten schaffen sollen. In Momenten, in denen der Staat versucht, uns in unsere kleinen Kreise zu spalten, haben wir die Verantwortung, uns zusammenzubringen, uns zu verbinden und einen größeren Kreis zu schaffen. In den Momenten, in denen der Staat will, dass wir unsichtbar und nicht öffentlich präsent sind, müssen wir zusammenkommen und so laut wie möglich schreien, dass wir hier sind und dass wir kämpfen werden. In den Momenten, in denen der Staat sogar eine Demonstration verbietet, müssen wir Wege finden, die Straßen GEMEINSAM zurückzuerobern und unsere Ideen zu zeigen.
Wir haben es dieses Mal nicht geschafft, den Angriff abzuwehren, aber wir sehen diese verpasste Chance als einen guten Ausgangspunkt für Diskussionen und Austausch. Wir freuen uns auf Feedback und Input.
Wir sehen uns auf der nächsten Demo! Die Straßen sind die Unseren!
Interkiezionale
November 2021
Hinweis: Wir arbeiten an einem Rückblick auf die Tag-x Demo vom 15.10. wegen der Köpiplatz-Räumung. Da es aber keine unmittelbare Räumungsdrohung für andere Projekte gibt, möchten wir die Räumungswelle größer reflektieren, daher wird es noch etwas dauern.
English
On the 23rd of October2021 a big demo would have taken place in Leipzig. With a German wide call a lot of structures, groups and individuals supported the call and organized themselves to visit Leipzig for these days. As Interkiezionale we also saw the call of our comrades in Leipzig positively as we recognize the lack of collective moments where people from all across Germany can come together, exchange knowledge and opinions. Creating space and time to exchange and network should be one of our priorities. The days in Leipzig could have worked as a starting point for the autonomous, anarchist, anti-authoritarian movement of Germany to come together not as a reaction towards one specific attack but as our own fighting days. After the prohibition of the demonstration, Interkiezionale was one of the structures that still called for people to go to Leipzig.
As we consider these collective moments as important for the movement, the prohibition of our demonstrations and the ways to fight against them a crucial topic, and we fill responsibility because of calling for the demonstration and against its prohibition we decided to write a reflection text on this, with the hope to engage in broader discussion, hopefully connecting the ones that for sure take place on city, scene or group levels.
Demonstrations as a moment of collective struggle
Demonstrations are always one of our most important political tools. Among propaganda, counter information, direct actions, assemblies, manifestations, demonstrations are moments that help us internally and externally. On the one hand its a time when people come together, meet their comrades, create moments and live common experiences. People feel empowered and the political groups expand to a movement. We come together, showing solidarity to people that we do not know because at this moment they are our close comrades. At these very moments it is US against everything that oppresses and exploits us. On the other hand demonstrations are where the rest of the society can address us. Where our ideas and perspectives are coming into the public sphere. The streets are becoming a channel of propaganda and at least for a while we expropriate the time and the place!
For us the demonstration itself is one of the main political tools. Our priority is to demonstrate and express our beliefs. However a demonstration looks like, peaceful or not, black blocked or not, it is always one of the most important moments of our movement, and we should fight for them.
The prohibition
The prohibition of the demonstration on the 23rd showed exactly this. That the state is always trying to avoid different struggles getting connected and that left radical ideas are becoming public. Because for the state is much easier to control or cover decentralized actions, which are always important and necessary, but it is much harder to hide when many people come together, share publicly their political stance and perspective.
The prohibition of the demo showed that we are traversing a period when the state is flirting with totalitarian narratives and tactics. Even for their bourgeois democracy a prohibition of a registered demonstration reveals the authoritarian character of this state. The argument of „not expecting a peaceful demonstration“ is showing the state repressive strategy. Based on predictions and possibilities the German state makes a decision and convicts before the action has even taken place. On the one side they show their own „incapacity“ of controlling a demo and on the other side they found the capacity to put the whole city of Leipzig into siege.
Contradiction after contradiction during this weekend we faced a cop city where patrols and check points were representing the regime we are living in. Trying though not to annoy too much in order not to confront „random“ people, German police had the role of terrorizingand intimidating rather than controlling. Their goal was to keep everything under control without actually starting random controls which might bring conflicts and anger.
The reaction of the movement
And here comes our part. What did we manage to do as a movement? Where were our mistakes from which we can learn for future fights and prohibitions?
After the demo was prohibited there was a deafening silence on our side, against it and on how to act. We believe that the movement should have spoken more openly and clearly for the need to fight back against the prohibition. On public counter-media channels or more internally, groups that called before or were planning to go despite the prohibition, could have made calls, and this could have created a dynamic and more collective atmosphere, the days prior, that might have mobilized more people to join or empower the people that were anyways going.
The prohibition of a demo is not something that we face constantly, as it is a tool the state is using but not very often, and therefore we lack the reflects to act against. There are recent examples that we experienced in our city and discussions could be based upon, although we clearly recognize that there is no one-to-one comparison, and no such tactic or idea can be mechanically reproduced in whatever place and time. The prohibition of the 1. Mai demonstration on 2020 (1), on the excuse of the pandemic, against which the orga decided to still call people to take the streets, announcing meeting points around Kreuzberg, that people tried to reach, and managed to do so in many occasions to walk, in a neighborhood that was under siege by thousands of cops. Of course the political background and history of 1. Mai demos is special. This probably was shown as few months after a similar attempt for action was taken one day before the court-date of Liebig34, on 02.06.20 were the 1. Mai dynamic was not reproduced in the streets, though the idea was similar (2). The same stand for the Interkiezionale Day X demo for the eviction of Syndikat on 08.07.20. The demo was not-registered, but publicly announced, though people managed to gather, the demo got circled and side-streets got blocked by cops, and the people could not move. A critical reflection of this demo can be found here. (3)
Outlook
The prohibition of the demo can be a precedent for the future. The state, after the experience of the demo in Leipzig might try to enforce this again. We believe we should find ways to have faster reflects against such situations and parallel try for these reflects to have a collective direction of inclusion. If we agree on this, how are structures can serve these goals in a way that is safe for everybody?
Though we didn’t manage to walk on 23.11, we should think that the state mobilized thousands of cops to stop us, and ask how we can use this, for example, if we keep on calling for bundesweit events, could they keep prohibiting and sending thousands of cops to do so? And even if this is logistically possible, do they want this on the political level?
As we recognize demonstrations as one of our most important political tools and network points we believe that for one as Interkiezionale, we should have discussed more before joining in order to have some concrete proposals to put on the table of discussion and further as an emancipatory movement we should have created the place and the time for this discussion in Leipzig to take place. In moments where the state tries to split us in our small circles we have the responsibility to bring us together, connect us and create a bigger circle. In moments where the state wants us invisible and non publicly present we have to come together and shout as loud as possible that we are here and we will fight. In the moments where the state even prohibits a demonstration we have to find ways to reclaim the streets ALL TOGETHER showing our ideas.
We didn’t manage to fight back the attack this time , but we see this missed chance as a good starting point for discussions and exchange. We are looking forward for feedback and input.
See you on the next demo! The streets are ours!
Interkiezionale
November 2021
Note: We are working on a review of the Day-x demo on 15.10. for Köpiplatz. However, since there is no immediate eviction threat for other projects, we would like to reflect bigger on the eviction wave, so it will take some more time.
(1) https://1mai.blackblogs.org/?p=877
(2) http://liebig34.blogsport.de/2020/06/01/remember-and-fight-cop-violence-june-2-an-eventful-day-and-eve-of-the-liebig-34-verdict/
(3) https://interkiezionale.noblogs.org/syndikat-sponti/
passiert am 23.10.2021