Wir sind Geflüchtete. Wir haben keine Arbeit. Wir sind nicht erlaubt etwas zu tun. Keine Würde hier. Wir brauchen Perspektiven.

Gerade in diesem Moment werden unzählige Menschen, die auf der bosnischen Seite der EU-Aussengrenze zu Kroatien in der Stadt Bihac leben, von lokalen Authoritäten gegen ihren Willen aus ihren besetzten Häuserruinen, Zelten und Unterkünften vertrieben und unter Zwang zum Lipa Camp (Bosnien und Herzegowina) gebracht. Diese Maßnahmen laufen seit den Morgenstunden des 24. Februars 2021, um die Stadt noch konsequenter von People on the Move zu ‚reinigen‘ und sie statt dessen im 25km entfernten Lipa Camp, in einer unwirtlichen Berglandschaft, auszusetzen und das letzte Maß an Selbstbestimmtheit zu nehmen.
Zwei Monate sind nun vergangen, seit dem das Lipa Camp am 23.12.2020 abgebrannt ist, sich alle verantwortlichen Organisationen zurückgezogen haben, und die EU tatenlos zusieht, wie nun noch mehr Menschen zum neu-improvisierten Lipa 2.0 direkt neben den verbrannten Ruinen des alten Camps deportiert werden.

Wir möchten diesen Brief teilen, den Sufyan Ali geschrieben hat. Sufyan muss in Lipa leben, und bringt seine Gedanken und Gefühle über die dortige Situation zum Ausdruck, und adressiert diesen an die Mitglieder des europäischen parlaments:

„Wir sind Geflüchtete. Wir haben keine Arbeit. Wir sind nicht erlaubt etwas zu tun. Keine Würde hier. Wir brauchen Perspektiven.
Ohne realistische Chancen in die EU zu kommen, sind Menschen aus Afghanistan und Pakistan, ohne Geld und Möglichkeiten sich etwas zu kaufen und in Bosnien zu arbeiten, an den Außengrenzen der EU gefangen. Bitte tue etwas für Geflüchtete in Bosnien. Dies ist unsere Anfrage an die Europäische Union! Die Mehrheit der Menschen die es schafft, die Grenze zu Kroatien zu überqueren, erlebt Pushbacks und werden nach Bosnien und Herzegowina zurück deportiert. Besonders männliche Migranten werden durchweg von der kroatischen Polizei besonders hart geschlagen und verprügelt. Aber es trifft auch Frauen und Kinder. Mit dem aktuellen System der „Grenzsicherung“ gibt es keinen legalen Weg für uns Europa zu erreichen. Wir sind dazu gezwungen es auf illegalen Wegen zu versuchen, daher ist es das Ziel der meisten Migranten, unerkannt durch Kroatien und dann Slowenien zu reisen um Italien zu erreichen. Italien ist der erste Ort wo das Risiko für uns wieder zurück nach Bosnien deportiert zu werden (Pushback) geringer wird.

Ich lebe im Lipa Camp in Bosnien. Die härteste Zeit in Lipa ist wenn wir kochen. Wir kochen unser eigenes Essen, da wir das Essen nicht mögen für das wir in einer Schlange warten und anstehen müssen. Das Essen dass am Morgen verteilt wird ist eine kleine Dose Fisch, eine Dose Hühnchen und eine Tasse schwarzer Tee und Brot. Und während des Tages werden hauptsächlich Linsen verteilt, und ab und zu verändern sie auch das Menü, aber meistens sind es Linsen. Außerdem gibt es keinen Ort zum Kochen in diesem Camp. Alle kochen das Essen im nahegelegenen Wald wo es kein Dach gibt. Wir tun all dies unter offenem Himmel. Es gibt keine Kücheneinrichtungen und wir müssen jeden Tag in der extremen Kälte kochen. Das Holz ist nicht trocken und es ist sehr schwierig ein Feuer anzukriegen, da es gerade Regen- und Schneesaison ist. Lipa ist ein Ort an dem es sehr schwierig ist all dies im Winter zu tun. Wir müssen das alles jeden Tag durchstehen. Wir wollen etwas besseres tun, wir wollen arbeiten! Denn so ist es enorm schwierig zu Leben. Ein anderer Punkt ist, dass wenn Organisationen nach Lipa kommen zum Essen verteilen, sie als erstes Photos von uns machen. Sie zeigen sie in sozialen Medien, dass sie viel helfen, aber Fakt ist, dass sie in 10 bis 15 Tagen uns einmal Essen geben und damit prahlen. Aber ich sage, verbringt eine Nacht und einen Tag im Lipa Camp und sehe die ganze Wahrheit.

Wenn ich über die Badezimmer rede: Es gibt nur ein Dutzend Chemietoiletten für mehr als eintausend Menschen. Kein fließendes Trinkwasser. Oftmals ist unser Wasser knapp. Die Bedingungen der Badezimmer hier ist nicht gut. Gereinigt werden sie alle 2-3 Tage. Es gibt insgesamt nur fünf Duschen, für all diese Menschen. Heißes Wasser gibt es nicht in den Duschen und in den Medien wird dann erzählt dass jede Einrichtung hier heißes Wasser hätte, aber das ist alles gelogen!
Ein anderer Punkt ist, dass es ein Treffen im Lipa Camp gab. In diesem Treffen wurde uns gesagt, dass die Menschen des Lipa Camps das Campgelände reinigen und aufräumen werden. Es wurde gesagt, dass wenn wir nicht putzen, die Heizungen denen weggenommen werden, die sich nicht am Saubermachen beteiligen. Lieber drohen sie uns, kontrollieren sie uns, als dass sie uns als menschliche Wesen verstehen. Wir sind junge gesunde Männer, wir können arbeiten! Fest zu sitzen mit nichts zu tun macht uns krank.

Über Covid-19: Die Campbetreiber schwören darauf, dass Covid sich im Camp nicht ausbreitet, obwohl es keinen Weg gibt dies zu verifizieren oder es zu kontrollieren. Auch andere Krankheiten wie Krätze verbreiten sich bei all den Menschen. Die Zelte in denen wir leben sind sehr klein. In einem solcher kleinen Zelte leben 30 Menschen, was es sehr voll werden lässt. In der aktuellen Situation einer Pandemie wie Covid-19 in der Welt, ist es sehr schwer in diesen Zelten zu leben, und wenn Menschen diese Krankheit auch hier bekommen, werden viele Leben verloren gehen. Wir fordern ein Kontrollsystem hier zu etablieren, damit Covid-19 Tests gemacht werden können und Menschen in Isolation gehen können, um das Problem zu umgehen.

Bitte, wir brauchen eine legale Möglichkeit in die Europäische Union einzureisen, ohne festzustecken oder in Gewalt zu leben! Wir brauchen Perspektiven!“

—-

Von No Name Kitchen aus wollen wir Brüssel an ihre Verantwortlichkeiten in dieser Situation erinnern.
Vor einigen Tagen hat Ylva Johansson, EU Kommissarin für Inneres, das Lipa Camp im Nord-Westen Bosnien und Herzegowinas besucht – nur wenige Kilometer von der EU-Aussengrenze zu Kroatien entfernt. Johansson hat sich darauf beschränkt, das ‚Migration Management‘ und die Unterbringung von People on the Move in Bosnien & Herzegowina zu kritisieren. Die Kommissarin vermied dabei jegliche Selbstkritik im Hinblick auf die Rolle der EU und wie die Entscheidungen aus Brüssel in diese Situation mit rein spielen. Doch im Bezug auf ihr anschließendes Treffen mit dem kroatischen Innenminister fasst sie zusammen, dass sie sich in ihrer Diskussion darauf fokussiert hätten, wie das „Migrations-Management mit einem gut funktionierenden Mechanismus der Grenzüberwachung umgesetzt werden kann.“

Wir möchten erneut daran erinnern, dass diese Situation eine direkte Konsequenz der politischen Entscheidungen aus Brüssel und der illegalen Praktiken durch Polizeikräfte aus EU Ländern sind. Statt einem weiteren hochrüsten an Grenzüberwachungstechniken, welches zu noch mehr Leid und Elend führen wird, fordern wir die EU und ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, sichere Fluchtwege in die EU zu schaffen, die Menschen an den EU-Aussengrenzen aufzunehmen und eine Perspektive zu bieten. Diese tödliche und menschenverachtende Abschottung muss ein sofortiges Ende haben!

Photo: Eddie (Bewohner im Lipa Camp)

lipa.jpg