Erklärung von Alfredo Cospito während der Vorverhandlung im Fall Sibilla

Die folgende Erklärung in der Vorverhandlung zur Frage einer Gerichtsverhandlung in der Frage der sogenannten Operation Sibella (1) gab Alfredo per Videoschaltung ab, da der Staat seine Isolation in 41bis möglichst umfassend aufrechterhalten will. – Bonustracks

Heute stellen Sie, die Vertreter der Justiz dieser Republik, uns vor Gericht, weil wir an Wände geschrieben haben, wegen unserer Worte, unserer Bücher und Zeitschriften, und zwingen damit die Anarchie in die Klandestinität. Wir befinden uns in guter Gesellschaft, denn mit dieser postfaschistischen Regierung breiten sich Zensur und Repression auf die gesamte Gesellschaft aus und beschleunigen den Übergang von einer totalitären Demokratie zu einem tragikomischen Operettenregime. In diesem Sinne muss ich Ihnen danken: Nach einem Jahr des Schweigens darf ich dank Ihrer peinlichen und anachronistischen Strafverfolgung meine Gedanken öffentlich äußern. Wenn auch nur aus der Ferne, wenn auch nur für die kurze Zeit eines Flügelschlags, kann ich heute meinen Knebel abreißen, den mittelalterlichen Knebel eines 41bis, den mir eine Mitte-Links-Regierung vor Jahren auferlegt hat, um eine unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen, die zwar eine Minderheit und irrelevant ist, aber ganz sicher ein Feind dieser Ihrer Demokratie. Diese zwei Jahre des Sonderregimes haben mir definitiv die Augen für das wahre Gesicht Ihres Gesetzes und Ihrer Verfassungsgarantien geöffnet und mir ein kriminogenes System des Totalitarismus offenbart, das ebenso obszön wie grausam und mörderisch ist.

Heute werden wir in diesem Gerichtssaal einem inquisitorischen Prozess unterzogen, der sich auf ein Interview stützt, das über die reguläre Gefängnispost gegeben wurde, und nicht, wie uns die Staatsanwaltschaft glauben machen will, auf ein Interview mit meiner Schwester, die allein deshalb in den Gerichtssaal gezerrt wurde, weil sie unerschrocken weiter ihren Bruder interviewte. Eine klassische Strategie aller autoritären Regime in der Welt, die bei 41bis regelmäßig angewandt wird, um jegliche affektive Verbindung zur Außenwelt zu zerstören.

Es ist bezeichnend, bei jedem Interview, das ich führe, die Handabdrücke der Kinder auf dem Panzerglas zu sehen, das sie von ihren Vätern oder Müttern trennt. Aber was kann man schon von einer Demokratie erwarten, die Kinder ins Gefängnis steckt?

Natürlich übernehme ich die volle Verantwortung für das Interview, weshalb ich jetzt in 41bis bin, wie ich auch die Verantwortung für alle meine Schriften übernehme, die letzte in chronologischer Reihenfolge der kleine Essay über die MIL im postfranquistischen Spanien, der im Hochsicherheitstrakt geschrieben wurde, bevor ich in dieses Grab für die Lebenden verlegt wurde, und von dem ich sicher bin, dass er bereits veröffentlicht wurde oder in Kürze veröffentlicht wird.

Und genau darin liegt die Besonderheit dieser meiner juristischen Geschichte. In dieses Regime (41bis, d.Ü.) wurde ich hineingesteckt, um mich mit der Anschuldigung einer führenden Rolle, wie Sie meine Rolle in Ihrer verdrehten und verworrenen Sprache definieren, für immer zum Schweigen zu bringen. Ein übler Präzedenzfall, mit beunruhigenden Folgen für mich. Wenn es Ihnen gelungen ist, die These durchzusetzen, dass ein Anarchist eine Führungsrolle spielen kann, eine Rolle, die von Natur aus autoritär ist und daher unvereinbar mit dem, was der Gedanke der Anarchie selbst ist, öffnet das die Tore des 41bis für jeden, der die Macht stört, seien es einzelne Revolutionäre oder radikale Bewegungen, und erleichtert abnormale Strafverfahren, wie dasjenige, das ich heute als Angeklagter erleben muss. Ich sage dies, weil ich der festen Überzeugung bin, dass meine Überstellung nach 41bis und dieser Prozess selbst im Grunde ein Angriff auf die Gedanken- und Pressefreiheit sind. Das ist der Kern des Problems, das Herzstück dieses Prozesses.

Die Gefahr des 41bis lässt sich nicht auf einen Operettenherrscher reduzieren, der einer ebenso operettenhaften Opposition eine erbärmliche Falle stellt (mein heterodirektionaler Wechsel vor zwei Jahren von einer Abteilung in eine andere angesichts der Ankunft römischer Politiker, um ein kleines Theater mit nützlicheren Statisten zu errichten). Die wirkliche Gefahr liegt in etwas viel Dunklerem, nämlich in der Macht, die im Falle eines sozialen Konflikts eine gewaltige repressive Abkürzung ermöglicht. Es gibt kein besseres Mittel, um Bewegungen und radikale Opposition zum Schweigen zu bringen, als ein bereits aktives und bewährtes Notstandsregime. Ein Ausnahmezustand, in dem viele Rechte außer Kraft gesetzt sind, in dem absolute Zensur herrscht, die bereits in jahrzehntelanger Praxis vor Ort erprobt wurde. Wer wird als erster dieses Sonderregime am eigenen Leib erfahren? Die Genossinnen und Genossen, die für Palästina kämpfen? Die Anarchisten und Anarchistinnen, die unerschrocken weiter von Revolution sprechen? Die Kommunisten und Kommunistinnen, die nie aufgegeben haben? Vier von ihnen leisten seit Jahrzehnten in absoluter Isolation stolzen Widerstand gegen dieses Regime, ohne sich jemals zu beugen.

Wenn der imperialistische Krieg des Westens als Gegenreaktion die Grenzen der Ukraine überschreitet und in unsere Häuser eindringt, wenn die sozialen Konflikte die Grenzen eines wackeligen Systems überschreiten, oder wenn nicht einmal ein sanfter und schrittweiser Übergang zu einem Regime möglich ist, dann wird 41bis dank des Anscheins der Legalität das ideale repressive Instrument für eine erzwungene soziale Betäubung sein, eine Art Rizinusöl, um die Widerspenstigen wieder auf Linie zu bringen, ein schrittweiser und legaler Staatsstreich. Dies würde auch erklären, warum ein Notstandsregime notwendig ist, wenn kein wirklicher Notstand vorliegt. Um die Menschen dazu zu bringen, diesen Zwang, diese Abweichung vom eigenen Recht zu akzeptieren, gibt es kein besseres trojanisches Pferd als den Kampf gegen die Schurken schlechthin: die Mafiosi. Menschen, die nicht zu rechtfertigen sind, die von denselben Politikern, die sie zuerst für ihre schmutzige Arbeit benutzt und dann hier begraben haben, um Schuldzuweisungen für geleistete und nicht zurückgezahlte Gefallen zu vermeiden, als unrettbar angesehen werden. Ein offenes Geheimnis, das niemanden mehr überrascht.

Unter dem Vorwand der Mafia Bekämpfung haben Sie Ihre eigenen Gesetze mit Füßen getreten, die Verfassung verraten und ihre Widersprüchlichkeit und ihr wahres Wesen als Feigenblatt entlarvt. Unter dem Vorwand, die Mafia zu bekämpfen, haben Sie eine Art ethnische Verfolgung in Gang gesetzt. Hier bei mir sind nur Kalabresen, Kampanier, Sizilianer, Apulier und natürlich Roma, die nicht vorzeigbaren Kinder eines von Bürgern zweiter Klasse bevölkerten Südens. Menschen, die manchmal nur wegen ihres Nachnamens verhaftet werden. Menschen, denen theoretisch unantastbare Rechte vorenthalten werden, um sie zur Reue zu zwingen, die in Ihrer abartigen Rechtsauffassung darin besteht, den eigenen Vater, die eigene Mutter, den eigenen Bruder oder die eigene Schwester zu denunzieren. Anwälte, die der Beihilfe beschuldigt werden, wenn sie sich nicht von Premierminister Torquemada einschüchtern lassen, Gespräche hinter Panzerglas ohne jeglichen physischen oder menschlichen Kontakt, Gespräche, bei denen Angehörige mit Tätowierungen verfolgt, gefilmt und aufgezeichnet werden, um Vorwände für ihre Verhaftung und Verhöre zu finden.

Ein Damoklesschwert, das ständig über ihren Köpfen schwebt, um diejenigen zu terrorisieren, die unverdrossen weiter ihre Lieben nicht im Stich lassen wollen. Ein Staatsterrorismus, der darauf abzielt, den Gefangenen die natürlichste Solidarität zu nehmen, die der Kinder, der Ehefrauen, der Ehemänner, der Mütter, die die einzige Solidarität ist, die sich die Menschen hier leisten und verstehen können. Eine repressive Technik, die durch den Entzug der menschlichen Solidarität und Empathie entmenschlicht. Dann kann man dem Gefangenen alles antun, weil er kein Mensch mehr ist, sondern nur noch eine Nummer, die man erpressen kann. Wenn man einen Untertanen nicht der Folter mit mörderischer Einzelhaft aussetzt, die ihm jede Hoffnung raubt, im Falle einer feindlichen lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Tod.

Eine Rechtsauffassung, die Ihrer Ethik würdig ist. Das ist die Lepra, die Sie Zivilisation nennen.

Alfredo Cospito

Anmerkung der Übersetzung:

(1) siehe dazu den Auszug einer Erklärung von italienischen Gefährten vom September 2024:

„Die in den frühen Morgenstunden des 11. November 2021 eingeleitete Operation Sibilla hatte das erklärte Ziel, die anarchistische Zeitung „Vetriolo“ (sowie die Edizioni Monte Bove, den Circolaccio Anarchico und zwei Websites, Roundrobin und Malacoda) zu treffen. Besondere Beachtung in den Augen der Ermittler verdiente die Veröffentlichung des Interviews mit Alfredo Cospito, damals Inhaftierter im Gefängnis von Ferrara, das in drei Teilen in ebenso vielen Ausgaben der Zeitung unter dem Titel „Quale internazionale?“ erschien und später im gleichnamigen Buch mit einem langen Nachtrag über die Geschichte der Federazione Anarchica Informale [Anarchistischen Informellen Föderation] neu aufgelegt wurde. In den Papieren der Richter von Perugia ging jedoch eine vorherige umfangreiche Untersuchung der Staatsanwaltschaft in Mailand mit dem bezeichnenden Namen „Vetriolo“ auf.
Mit der Sibilla-Operation experimentierten die Repressionskräfte mit der Verwendung des Vorwurfs der Anstiftung zum Verbrechen unter dem erschwerenden Umstand des terroristischen Zwecks, um die anarchistische Publizistik zu treffen und möglicherweise Untersuchungshaftbefehle an Genossen zu verteilen, die beschuldigt wurden, militante Texte verfasst oder herausgegeben zu haben, wobei sie nicht vorhandene „Anstiftungs-“ und „Orientierungs“-Kapazitäten in einem Bereich wie der anarchistischen Bewegung unterstellten, der historisch durch eine hartnäckige und radikale Autonomie des Denkens und Handelns gekennzeichnet ist. Es ist nicht zuletzt bezeichnend, dass die beiden von der Aktion betroffenen Websites auf italienischem Gebiet gesperrt wurden.“

Die Worte Alfredos wurden gemeinsam mit den Erklärungen der Mitbeschuldigten Francesco Rota, Michele Fabiani, Matteo Monaco, Sara Ardizzone und Paolo Arosio in Italienisch am 18.1.2025 auf LA NEMESI dokumentiert. Die Übersetzung von Alfredos Erklärung erfolgte durch Bonustracks.

https://lanemesi.noblogs.org/post/2025/01/18/questa-e-la-lebbra-che-chiamate-civilta-dichiarazioni-spontanee/