Silvesterdemo & Jahresrückblick: Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten!
Ein brennender Einkaufwagen, eine gefakte Notoperation eines Bullen und eine absurde Mordfahndung, die sich schließlich in Luft und Nebel auflöste: 2020 fing mit der Silvesternacht in Leipzig schon gut an. Trotzdem hätte wohl niemand von uns erwartet, dass nur drei Monate später die bisher schwerste globale Pandemie des Jahrhunderts und die größte Wirtschaftskrise seit der Finanzkrise 2007/2008 beginnen würden. Für viele war 2020 ein Jahr der Trauer, der Ängste, der Isolation, der Ohnmacht. Mit einer radikalen Linken, die ihren eigenen Ansprüchen selten gerecht werden konnten. Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung: Die Luft wird kälter aber sie wird auch klarer, die Konfliktlinien der Gesellschaft sind aufgebrochen und es liegt an uns sie nutzen. Dieser Text soll ein subjektiver autonomer Berliner Jahresrückblick und ein pathetischer Aufruf zu einer Hoffnung sein, die wir uns nur selbst schenken können und für die die Silvesterdemo ein Anfang sein kann.
Januar
Anfang des Jahres dachten die meisten von uns noch, 2020 würde das Jahr der Räumungen. Das wurde es auch, aber vermutlich werden wir es nicht deshalb besonders in Erinnerung behalten. Syndikat, Potse, Meuterei, Liebig34, Sabot Garden und Rigaer94 – die Liste der bedrohten Projekte war in den letzten Jahren nur länger geworden. Gleichzeitig wurden in den ersten Tagen des Jahres die Spannervideos von Monis Rache bekannt. Nicht alle „Freiräume“ sind so frei wie wir denken oder zumindest nicht für jede:n.
Ende Januar zeigte sich, in welche Richtung 2020 gehen würde: In Berlin erschossen Bullen Maria in ihrer Wohnung im Friedrichshainer Südkiez. Die Entsichern-Demo zum Polizeikongress wurde daraufhin verlegt und zog unfassbar wütend aber in erstickendem Spalier rund um die Wedekindwache. Kurz zuvor knallte es ordenlich in Leipzig, wo der Prozess gegen Linksunten.Indymedia stattfand.
Februar
Die wohl traurigsten und wütendsten Stunden des Jahres erlebten viele von uns am 19. Februar: In Hanau erschoss ein Rechtsextremer zehn Menschen. Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu, Gabriele Rathjen, niemand ist vergessen. Nach den Anschlägen auf Lübcke und in Halle der traurige aber wohl nur vorläufige Höhepunkt des rechten Terrors. Als Konsequenzen bildeten sich neue migrantische Selbstschutznetzwerke und Migrantifa-Gruppen in vielen Städten.
Ende Februar wurden in Berlin die ersten COVID19-Fälle bekannt. Trotzdem nutzten Senat und Investa die letzten Tage der Rodungssaison und räumten erst das Baumhaus Ätschibätsch und später – so still es nur ging – den ganzen Wagenplatz Sabot Garden.
März
Als Reaktion auf den Anschlag von Hanau beginnt die antifaschistische Offensive „Die AfD hat mitgeschossen.“ Nachts erwischt es ebenso die Autos oder Häuser von Curio, Paulenz & Co. wie die Treffpunkt der Rechten.
Ansonsten passiert nicht viel, der Lockdown legt mit der Stadt auch die linke Szene lahm. Unsicherheit macht sich breit. Uns fehlen Antworten und wir merken, wie schwach wir in der Bevölkerung verankert sind. Gleichzeitig struggeln viele: Bei 60 % Kurzarbeiter:innenlohn wird die Kohle für die Miete knapp, Leute verlieren ihre Jobs, Menschen mit psychischen Erkrankungen ihren strukturgebenden Alltagsrythmus. Überall wird wieder das „klassische“ Familienbild als Schablone auf die Gesellschaft gepresst und die häusliche Gewalt vor allem an FLINTA* steigt. Gleichzeitig entstehen neue Netzwerke der Solidarität, Nachbar:innen unterhalten sich zum ersten mal und unterstützen sich bei Einkäufen und im Alltag.
April
Die ersten Versuche die Ohnmacht zu durchbrechen laufen an: Während alle „Stay the f**k at home“ fordern schaffen ein paar Kleingruppen überhaupt erst ein zu Hause für Menschen ohne Obdach und besetzen leerstehende Wohnungen. Später im Jahr starten Jugendgruppen mit der Besetzung von drei Häusern eine Offensive für Jugendklubs, alle werden geräumt aber eine neue Besetzungsgeneration ist am Start. Am Kotti, in Parks oder auf dem Dorfplatz gibt es erste linke Kundgebungen, die die Coronakrise thematisieren. Gleichzeitig schwimmen uns die Felle weg: Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz finden die ersten Hygiene-Demos statt. Schnell ist klar, dass das Publikum aus Esos und Ken-Jebsen-Fans keine Verbündeten darstellen kann.
Mai
Der 1. Mai bringt uns endlich wieder zusammen. Trotz Demoverbot ziehen ein paar Hundert quer durch Kreuzberg 36, alle vermummt. Noch passiert nicht viel außer Pyro, ein paar Flaschen und kleinen Barrikaden. In den Nächten klirrt es an vielen Orten und die Wandparole und Transpis aus Wohnungen erfreuen sich neuer Beliebtheit.
Juni
In den USA wird George Floyd von Bullen ermordert, ein großer Aufstand gegen rassistische Polizeigewalt beginnt. In Neukölln ziehen 300 Menschen unangemeldet durch die Karl-Marx-Allee und sorgen für massig kaputte Glasfassaden. Auf dem Alex kommen am Tag darauf tausende zusammen – und erfahren erneut rassistische Polizeigewalt.
Auf dem Hermannplatz protestiert jeden Samstag „Jetzt erst Recht“ – die linken Proteste bleiben jedoch klein. Gleichzeitig häufen sich in Neukölln wieder Anschläge von bekannten Nazis, die später beim Plausch mit Bullen erwischt werden.
Juli
Während alle den ersten Räumungsversuch des Syndikats erwarten, dringen die Cops in die Rigaer 94 ein und versuchen sich an einer Teilräumung. Nach drei Tagen ziehen sie sich ebenso wie Bauarbeiter und Secus zurück.
August
Der 1. August markiert den Beginn der größten Räumungswelle seit 1990. Während in Mitte tausende Verschwörungsideolog:innen, Esoteriker:innen und Nazis versuchen den Tierpark zu besetzen läuft die „Raus aus der Defensive“-Demo eine kurze Runde durch Neukölln – ehe es in der Flughafenstraße knallt.
Eine Woche später errichten die Bullen eine Rote Zone im Schillerkiez und der Berliner Senat lässt das Syndikat räumen. Die Solidarität im Kiez ist groß, die Tag X-Sponti trotzdem ein Flop. Danach ist de.indymedia für mehrere Wochen down und unsere Kommunikation beträchtlich geschwächt.
September
Seit dem Beginn der Pandemie in Europa war eigentlich allen Beteiligten klar, dass ein Corona-Fall in einem der überfüllten und menschenunwürdigen Lager an den Grenzen der europäischen Festung Tausende noch mehr in Gefahr bringen würde. Anfang September passierte das zu Erwartende in Moria, woraufhin das Lager endgültig zum Knast wurde. Schließlich zündeten ein paar Menschen das Lager an. Ein paar Demos und falsche Lippenbekenntnisse von Seehofer und Merkel später war ein neues Lager errichtet und nichts hatte sich verändert. Es blieben die Gleichen, die unter der Krise litten und die Gleichen, die von ihr profitierten. Daran änderte auch die „Wer hat der gibt“-Demo auf dem Kudamm erstmal nichts, doch endlich gab es überhaupt eine größere linke Demo, die die soziale Frage in der Coronakrise stellte.
Oktober
Mittlerweile gab es fast jedes Wochenende Aufmärsche von Querdenken, Verschwörungstheoretiker:innen und auch Nazis. Jedoch dauerte es bis zum 03. Oktober, bis es zum ersten klassischen Naziaufmarsch des Jahres in Berlin kam: Der III. Weg wollte durch Hohenschönhausen marschieren. Eine bundesweite Mobi, starke Blockaden, Flugschotter und andere Angriffe später war der Spuk vorbei und die meisten von uns mit dem wohl stärkste nantifaschistische Aktionstag seit Jahren zufrieden. Eine Demo am Abend markierte jedoch den Beginn der Aktionswoche zur Liebigräumung.
Die sollte schließlich als einziges anarchaqueerfeministisches Hausprojekt Berlins durch Padovicz und den Senat geräumt werden. Eine tagelange rote Zone, SEK auf allen Dächern und ein Belagerungszustand verhinderten Blockaden und direkte Angriffe im Nordkiez, dafür brannte es in den Nächten zuvor und am Morgen nicht nur im Südkiez. In Erinnerung bleibt uns jedoch vor allem die TagX-Demo durch Mitte, die durchgehend Luxusläden und -karren entglaste.
Die europaweit mobilisierten „United we fight“-Aktionstage blieben durch Einreisebestimmungen und Erschöpfung hinter den Erwartungen zurück.
November
Auch in diesem Jahr schaffte es die AfD nicht so Recht, einen Landesparteitag abzuhalten. Damit kann die Kampagne „Kein Raum der AfD“ auf ein weiteres erfolgreiches Jahr zurückblicken, zuletzt scheiterte die Partei an dem Brandschutz im La Fiesta.
Gleichzeitig ging der Blick aus Berlin immer mehr in den Danni, wo hunderte den Kampf gegen die A49, die Verkehrspolitik der Bundesregierung und einen übermächtigen Polizeiapparat aufnahmen. Mittlerweile ist das letzte Baumhaus geräumt und der letzte Baum auf der Schneise gerodet, doch der Kampf gegen die Autobahn ist längst nicht vorbei.
Das ist auch noch lange nicht der Kampf gegen die rechten Strukturen in Neukölln. Zum Gedenktag an den von Nazis ermordeten Silvio Meier erlebte die Demo in Rudow eine Erneuerung, die Hoffnung macht.
„Die Welt muss erschüttert werden, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.“ Elisée Reclus
Für die Freund:innen des Aufstands, war 2020 ein kleiner Schritt in die Offensive: Rund um den Kampf der bedrohten Häuser aber auch bei diversen Spontis hat sich wieder ein militantes Selbstverständnis etabliert. Die TagX-Demo der Liebig34, die „Raus aus der Defensive“-Randale oder der militante Antifaschismus in Hohenschönhausen waren in den letzten vier Jahren so nicht denkbar in Berlin.
Was nehmen wir als Anarchist:innen, radikale Linke oder Autonome mit aus diesem Jahr? Neben den verschiedenen Aktionen auf der Straße auch die langfristige Arbeit: Die Kiezkommunen etablieren sich weiter, ebenso der Jugendrat. Über weitere Berichte über das Jahr von Basisorganisierungen freuen wir uns. Von den postautonomen „Groß“-Gruppen wie IL und TOP hat man wenig gehört. Auch die FAU blieb trotz haufenweise Arbeitskämpfen zumindest nach außen relativ still. Mit der Mieter:innengewerkschaft hat sie jetzt eine anarchosyndikalistische Schwester im Mietbereich. Generell hat die Mieter:innenbewegung nach dem Einlenken der Regierung und dem Mietendeckel ein wenig an Rückenwind verloren. Sollte der nächstes Jahr fallen, wird das die Mieter:innenbewegung neu beleben und im Idealfall die organisierten Häuser ebenso stärken wie die Deutsche Wohnen „enteignen“-Kampagne. Für die Klimagerechtigkeitsbewegung war 2020 ein Jahr des Stillstandes, der Danni könnte jedoch eine neue Phase einläuten und hat viele FridayForFuture-Aktivist:innen nachhaltig radikalisiert. Mehr im Fokus war durch Corona auch die Arbeit der Antiknastgruppen, wie sie auf 2020 zurückblicken können wir nicht sagen. Die feministische Bewegung verlor mit der Liebig34 ihren wichtigsten Ort. Von Studierenden oder Schüler:innenaufständen ist uns nichts bekannt.
Was über allem schwebt ist die Frage, wie wir der Krise 2021 begegnen. Unsere Passivität als radikale Linke während des ersten Lockdowns hat uns selbst verunsichert und enttäuscht. Wir versuchten uns darin den Schutz vor Corona für wirklich alle zu fordern und kritisierten mal mehr mal weniger die Maßnahmen der Regierung, ohne selbst eine klare Position zu entwickeln. Zur Wirtschaftskrise wussten wir schnell, wie wir uns positionieren. Klar müssen die Reichen zahlen, doch wie wir das durchsetzen ohne sozialdemokratische Forderungen an die Regierung zu stellen, konnte niemand beantworten (oder wir haben es nicht gehört). Wir haben gemerkt, dass uns die soziale Basis fehlt.
Gleichzeitig rüttelt die Corona- wie die Wirtschaftskrise an den Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft. Was Ausbeutung bedeutet wird für alle sichtbarer, die Klassengrenzen schärfen sich zwischen denen, die in der Villa chillen und denen die ihnen die Pakete bringen. Fast alle Menschen wurden aus ihrem alltäglichen Trott gebracht, die Chance neue Gewohnheiten zu etablieren nutzen die Konzerne bereits. Überall finden wir Wut auf ein Leben das nichts zu bieten hat als Arbeit und sonst nichts.
All das müssen wir als Chance begreifen. Und klar machen, was wir wollen und wie wir es erreichen. Die Menschen warten nicht auf eine Avantgarde ,die alles besser weiß und voran marschiert aber auf klare Ideen, Kämpfe und Vorschläge für ein besseres Morgen. Alle wissen, dass die Welt in der wir leben scheiße ist, aber wir schaffen es (noch) nicht unsere Vorschläge in einem relevanten Maß in die Gesellschaft zu tragen. Wir müssen Organisationsformen anbieten, die zu den Leuten passen mit denen wir kämpfen wollen, nicht die unser Idealvorstellung entspringen. Vor allem brauchen wir Mut: Mut unsere Ideen zu propagieren, Mut sie an der S-Bahnstation Leuten auf Flyern in die Hand zu geben und sie mit ihnen zu diskutieren. Mut unsere Nachbar:innen und Kolleg:innen zu Versammlungen einzuladen. Mut die dabei entstehenden Widersprüche auszuhalen und uns nicht nur mit Menschen organisieren, die unsere perfekte Kritik tielen. Es hilft uns nichts, wenn wir einmal die Woche mit „Anticapitalista“-Sprechhören durch die Straßen laufen aber uns nicht auf der Arbeit oder zu Hause organisieren.
Das Prinzip Hoffnung
Um zu kämpfen braucht es neben Wut nämlich auch Hoffnung. Wenn wir selbst nicht an das glauben, für was wir kämpfen, wird sich auch niemand uns anschließen wollen. Ja 2020 war ein schweres Jahr, und ja die Pandemie hat gezeigt, wo unsere Schwächen sind. Sich in Fatalismus zu wälzen, wird uns aber nicht helfen. Wir sind viele und wir kämpfen, weil wir ein besseres Morgen wollen und nicht, weil wir den Status Quo verteidigen wollen.
Außerdem haben wir viele Momente erlebt, die uns Mut gemacht haben! Die – für viele langweilige – Organisierung von Mieter:innen, die Angst vor dem Verkauf ihrer Häuser haben und radikaler sind als wir es je dachten. Die aufgeregten und freudigen Blicke unser Gefährt:innen, wenn wir durch die Straßen liefen und überall Fensterscheiben klirrten. Die Freund:innen, die massenhaft die Pille danach kauften, um die Menschen in Polen zu unterstützen. Die Gespräche mit den Nachbar:innen, als wir gemeinsam überlegten, wie wir Kohle für die Miete organisieren können. Der Entschluss mit den Kolleg:innen die Arbeit niederzulegen, bis wir vernünftig geschützt werden. Die Postkarten in den Knast. Das Wissen, dass wir Leute haben, die wir anrufen können, wenn es uns schlecht geht. Fast jeder Tag hat kleine Momente der Solidarität: Halten wir uns an ihnen fest, weiten wir sie aus und schöpfen daraus Mut! Nur wir selbst können uns befreien!
Deshalb lasst uns an Silvester zusammenkommen. Lasst uns die Coronaleugner:innen und Nazis dort hinschicken, wo sie herkommen: In die Bedeutungslosigkeit der Spiegelonlinekommentarspalte. Organisiert direkte Aktionen gegen diese üble antisemitische Mischung und kommt mit zur „2021 solidarisch für alle“-Demo um 13 Uhr am Alexanderplatz. Zeigen wir uns selbst, dass wir viele sind! Dass wir Mut haben, dass wir die soziale Ungerechtigkeit dieser Welt nicht länger hinnehmen werden. Nicht für andere, nicht für uns selbst! Lasst uns Silvester zu dem Beginn eines kämpferischen und solidarischen 2021 machen, in dessen Rückblende wir sagen können, dass wir damals die ersten Grundsteine für eine antikapitalistische Bewegung gesetzt haben, die wirklich die Reichen für die Krise zahlen lässt. Schluss mit den Verschwörungsideologien! 2021 wird unser Jahr!
31.12.2020 – 13 Uhr – Alexanderplatz